Wenn du wagst zu benennen, wirst du gewinnen

110 Minutes

Wenn du wagst zu benennen, wirst du gewinnen.

 

Gerade hatte sie ihn gebeten, sich an den Tisch zu setzen, hatte sich selbst auf den Stuhl neben ihm gesetzt, seltsamer Weise nicht ihm gegenüber, wie es Erwachsene in solchen Sitzungen immer zu tun pflegen, hatte er gedacht. „Wieso ausgerechnet neben ihn?“ überlegt er, aus seinem Gewohnten gerissen. Ein Glück, hatte sie eine guten Abstand genommen. „Oh, ich muß kurz etwas nach schauen.“ Sie hatte sich tief hinunter gebeugt und wühlte in ihrer Tasche herum. Ihr wildes Kramen schien ihn an etwas zu erinnern. Er lauschte, es war dieses aufgeregte Rascheln, das ihn auf seltsame Weise tröstete, eine für ihn angenehme Art menschlicher Nähe erfüllte den Raum. Er blickte auf den Tisch. Dort lag Knete und Fadenrollen und Bänder und Dinge, die vorher jemand zum Basteln benutzt hatte. Sie war sehr aufgeregt und zunehmend nervös und entschuldigte sich bei ihm. „Ich muß dringend etwas finden! Oh nein, hoffentlich habe ich es nicht irgendwo liegen gelassen oder gar verloren. Oh nein. Ich muß kurz ins Büro die Sekretärin fragen, hoffentlich habe ich es oben liegen lassen.“ „Ja,“ sagte er, als wisse er Bescheid. Sie rührte ihn in ihrer Besorgnis und gleichzeitig dachte er, „ immer suchen sie nach irgendwas, nach irgendwelchen Wichtigkeiten und dahinter verschwinden sie, dahinter verschwindet ihr Gegenüber. War er ihr gegenüber?“ fragte er sich, als sie die Treppe hinauf, aufgeregt verschwand. Ihre Tasche hatte sie stehengelassen. Mit aufgerissenem, riesigen Maul, glotzte die Tasche ihn an. „Was ist wohl in dir drin?“ dachte er. „Er würde mal schauen, dann wüßte er mehr über die Frau, wer sie war und so. Er würde ja nichts nehmen, nur schauen, oder doch? Selbst Schuld, wenn sie ihn vergaß über ihrer Sucherei. Oder nein, sie vertraute ihm, sonst hätte sie die Tasche nicht offen dort stehen gelassen. Sie vertraut mir? Mir vertrauen,“ der Satz ließ ihn ein wenig wachsen. „Ach was, an mich hat sie dabei gar nicht gedacht, sie nimmt selbstverständlich an, dass ich nicht an ihre Tasche geht, dass ich eben zu warten habe, und sie? Sie ist die Unverletzliche, die Berechtigte. Wenn er es wagte, an ihre Tasche zu gehen, sie wüßte ihn fertig zu machen. Was, wenn ich doch an ihre Tasche ginge, ich würde sehen, dass ihre Tasche innen befleckt ist, dass sie zu voll ist mit allzu menschlichen Dingen.“ Ihm wurde zusehends unangenehmer. Wer war er schon und was konnte man denken. Am liebsten würde er der treue Hüter gewesen sein, er hätte ihre Tasche beschützt, dann wäre er ruhig und hätte nicht dieses heraufkommende Gefühl der Angst vor sich selbst. Das Gewahren der Unsicherheit darüber, wer man selbst war und sei und ist, erzeugt Ängste. Etwas aus der Tasche nehmen könnte er auch, zum Beispiel Geld. Wahrscheinlich würde sie es nicht einmal bemerken. Die anderen Jungen würden ihn bewundern, wenn er mit einem Schein käme, allen etwas ausgab, wenn er verkündete, wie trickreich und vor allem kaltblütig er etwas erobert hätte und dann noch in solchen Stunden. Er gehörte nicht zu den Leuten, die alles erst zimperlich durchdachten. Er hätte gesagt, „Geld ist doch egal für sie, Hauptsache ich hab es jetzt und vor allem leicht ergattert.“ „Kann sie nicht wieder kommen? Es ist seine Stunde! Er war es, der gezwungen worden war hier her zu kommen, und Zeit und dämliches Gerede über sich ergehen lassen zu müssen. Er hatte es sich nicht ausgesucht zu kommen, seine Lehrer hatten es bestimmt. Er könne nicht konzentriert arbeiten, nicht lernen wie es sein muß, wäre aufbrausend und unkontrolliert. Das Wort unkontrolliert regte ihn auf, denn er fühlte sich ständig kontrolliert, eben wegen dieser ganzen Kontrolle, habe er sich dann schließlich nicht mehr im Griff. Sein verhalten wäre nicht schulkompartibel. Und er habe Aggressionen, die er nicht kontrollieren könne. Wie dumm,“ dachte er, „ich kann sie sehr gut kontrollieren. Sie kommen nur bei denen zum Vorschein, die ihrerseits ihre Aggressionen vollständig deplatziert hinauslassen, dessen war er sich sicher. Er hatte sich nicht geweigert hier her zu gehen. Auch würde er diese Zustände einer gewissen Dumpfheit im Innern, die ihm Angst machte, zeitlich überbrücken. Diese Angst ließ ihn in den unangenehmsten Situationen in Schweiß ausbrechen, und das begann sein Leben ein zu schränken. Nun saß er hier und sie suchte etwas, etwas, das sie verloren hatte, etwas ein Etwas. Er aber, er suchte nicht ein Etwas. Auch er mußte etwas verloren haben, aber er erkannte nicht was und er wußte es nicht zu benennen. Es quälte ihn Tag aus Tag ein.

Einmal hatte er im Park gesessen, auf einer Bank. Als es zu regnen begann, war er sitzen geblieben. Ein älterer Herr saß am anderen Ende der Bank. Es war nicht kalt gewesen. Er fühlte Erleichterung, als die Tropfen auf seine Wange fielen. Viele Regentropfen fielen herab, seine Haare waren sofort naß und die Tropfen tropften auf seine Stirn. Von dort liefen sie, wie an einer Fensterscheibe hinab über seine Wangen, seine Nase, seine Augen, seinen Mund, sein Gesicht weinte. Der alte Herr hatte einen Hut auf. Als der Junge hinüber sah, rührte ihn der Anblick der Tropfen, die von der Hutkrempe hüpften. Ein Springbrunnen Vorhang umkränzte sein Gesicht. „Was für ein Sommerregen,“ sagte der Mann,“die Pflanzen freuen sich, trinken und wachsen. Aber, Junge, wir wachsen auch, wir wachsen auch, nur sieht es keiner. Uns tränkt dieser Regen auch. Der Junge leckte einen Tropfen von seiner Lippe. „Manchmal finden wir uns wieder, weil ein Tropfen unsere Wange berührt. Man geht sich viel zu oft verloren und warum schert sich keiner darum? Auch wir selbst nicht? Wir lassen dann dieses Verloren sein verhärten, zu kleinen Steinen, die uns von innen erschlagen. Junge such dich immer und immer. Und das Begegnen, welcher Art es auch sei, bringt dich dir wieder aus noch so fernen Verstecken, und auch du kannst viel bewirken, geben im Begegnen.“

Gerade hier, jetzt, fiel ihm diese Situation ein, er sah es gerade zu vor sich, wie der Mann aufstand, und die Bank verließ. Er hatte sich getröstet gefühlt. Dieses, mit jenem Mann im Regen auf jener Bank sitzen, war ein Gemälde in seinem Innern geworden, das ihn von nun an begleitete. Damals als der Regen aufhörte, fühlte er sich selbst, so wie die Landschaft nach ersehntem Regen, frisch und bereit zu Neuem. Eine Hoffnung auf Zukunft ein Möglich-Sein durchströmte ihn,sein darin, dabei sein war voller Zuversicht. Oft erfüllte es ihn jetzt mit Sehnsucht nach genau diesem Zustand und diese Sehnsucht schien größer zu sein, als er selbst.
Seine Augen hatten zum Fenster geschaut. Die Tasche stand immer noch offen auf dem Boden. „Haifisch,“ dachte er, „zu nah ans Ufer geschwemmt, beißt Du deine Drohungen in die Luft.“ Unbewußt hatte er die Knete, die vor ihm lag, in die Hand genommen. Rote Knete, er formte sie einfach ein bißchen. Eigentlich wärmte er sie, oder kühlte seine Handinnenfläche. Er drückte sie und um krampfte sie quetschend, ließ sie locker angenehm schwer in seiner Hand liegen, er sah sie an und rollte sie zwischen drei Fingern. Kleine Stücke lösten sich aus der Gesamtheit, wie Tropfen blieben sie unter seiner geöffneten Hand auf dem Tisch liegen. Er schob sie zusammen zu kleinen Haufen. Er nahm das Knäuel mit der dünnen Schnur und legte von Haufen zu Haufen Schnüre, schnitt diese ab, nahm neue, formte aus der blauen Knete Rollen und stellte diese aufrecht zwischen die Haufen. Dann verband er auch diese mit Schnüren. Ein zartes Netz bildete sich auf einer Fläche des Tisches. Er schaute so vertieft auf seine Arbeit, dass er nicht bemerkte, wie die Frau wieder herab gekommen war. Sie war in der Tür stehen geblieben und schaute überrascht auf den Jungen und die Konstruktion auf dem Tisch. Die vertiefte Haltung dieses fahrigen Kindes hatte so etwas Stilles, geradezu anrührendes für Sie. Der Junge nahm eine verpackte Knetkugel, stellte dieses vor das Bauwerk, dann schubste er sie an, so daß sie wie ein Fahrzeug mitten durch die Fadenlandschaft fuhr. Alle Fäden verhedderten sich, die Rollentürmchen fielen durcheinander. Hier und da löste sich ein roter Tropfen aus seinem Haufen und kullerte irgendwohin. Er sah dem Treiben unbewegt zu. Dann sprang er jäh auf und schrie,“ ich will hier nicht sein.“ Er wollte zur Tür eilen, sein Fuß aber verhedderte sich an der Tasche, er stürzte. Die Tasche fiel um, Einzelheiten purzelten heraus. Eine Münze rollte durchs Zimmer, eine Tablettendose unter den Tisch. Bonbons klickerten aus der Tasche. „Erwachsene, Sie aß Bonbons, wie ein Kind, beschämend.“
Er rappelte sich auf, „ich hasse euch alle!“ brüllte er und rannte zur Tür. Sie aber stand ja da und versperrte den Weg. „Halt!“ sagte sie, „Halt!“ Er fühlte Hass, jetzt wirklich, er würde sie treten, sie versperrte Ihm den Weg, den Ausgang, das Fortkommen aus dieser dämlichen Situation. Er mußte jetzt gehen und zwar sofort. Er würde ihr nicht helfen, ihr mit ihrer blöden Tasche. „Nein“ ,eigentlich war es überhaupt anders, nicht er brauchte sie, sondern tatsächlich brauchte sie ihn, wie alle ihn immer brauchten für ihren Zorn oder ihr Gut-sein. Und wenn sie am Tisch säßen, würde sie ihn quälen mit Fragen und Ihrem Ihn-Beobachten. Und er würde Antworten erfinden müssen, lügen, irgend etwas erzählen, nur um sie los zu werden, um weg zukommen. Er hatte keine Antwort und diese Leere würde er nicht verraten, nicht preisgeben. „Halt,“ sagte sie. „Richtiger Halt wäre was, brächte ihm was,“ dachte er. „Nicht so schnell, wir haben noch ein bißchen Zeit.“ „Sie vielleicht, aber ich nicht.“ dachte er.„Du hast recht, es war nicht richtig, dich hier warten zu lassen, deine Zeit zu vergeuden.“ „Meine Zeit?“ fragte er „Ja deine Zeit.“ „Sie lügen! Sie meinen ihre Zeit. Sind sie sicher, dass die Zeit, in denen ich mit Ihnen zusammen sitzen muß, nicht vergeudeter ist?“ „Ja, das bin ich.“ sagte sie. „Ich versteh’ zwar nicht allzu viel von allem, was so in der Zeit geschieht, aber die Zeit, die mir mit einem anderen Menschen zu verbringen angeboten ist, ist mir kostbar. Die Zeit mit jemand zu teilen ist mir wertvoll und auf diese Weise, wie wir sie jetzt zusammen verbringen ganz besonders, denn sie unterliegt in ihren Bedingungen und Rollen einem gewissen Schutz, der spannenden Freiraum gibt. Wenn ich aufpasse, dass kein Krokodil da ist, so lange du auf der Wiese bist, kannst du gelassen auf der Wiese spielen und ausruhen, würde ich nicht aufpassen müßtest du ständig auf Gefahren gefasst sein und könntest nicht gelassen einfach mal die Wiese und ihre Bewohner anschauen.“ Er ging zum Tisch zurück und murmelte, „sie kennen mich doch garnicht.“ „Genau, ich kenne dich nicht, aber ich könnte dich kennenlernen?“ „Sie spinnen,“ sagte er nach einer Pause. Sie fragte, „ willst du dich nicht nochmal kurz setzen? Danke, dass du unfreiwillig auf meine Tasche aufgepasst hast.“ „unfreiwillig?“ sagte er. „Naja, ich hätte dich zu mindestens fragen müssen, ob ich sie solange bei dir lassen darf.“ „Mich fragen müssen,“ wiederholte er. „Mir ist heut’ einiges schiefgegangen, aber jetzt kümmern sich andere darum, sich in deiner ersten Stunde so zu verhalten, wie ich heute, ist nicht gerade richtig.“
„Wie ist es denn richtig?“ fragte er wieder genervt…….und nuschelte, „sieh doch mal ein, und du mußt und du kannst mir vertrauen und ich sag nichts. Und dann am nächsten Tag, man weiß ja wie es ist, ändert sich alles, man muß woanders sitzen in der Klasse, die Eltern sind merkwürdig und nach ein paar Tagen explodiert es um einen herum. In zwischen weiß man nicht mal mehr, woraus und warum es entstanden ist. Genau so ist wohl richtiges Verhalten?“ Dann sagte er mit klarer Aussprache:„ich muß jetzt gehen.“ Sie hatte alles wieder aufgesammelt und in ihrer Tasche verstaut. Sie dabei betrachtend dachte er: „sie wirkt ein bißchen verloren, wie sie sich dort bückt. Ihre Frisur ist verrutscht und die Ärmel ihres Pullovers sind viel zu lang, so dass sie wieder und wieder diese hinauf schieben mußte.“ „Sie sollten sie ein wenig aufkrempeln, dann würden sie sie nicht so ärgern.“ sagte er mit sehr freundlicher Stimme. Sie lachte ihn an, „stimmt, das wäre ein Weg.“ „Ein Weg? sagen sie?“„Ja, eine Weg, was denn sonst?“ fragte er, „das ist der Weg, so macht man es.“ sagte er „Naja, sagte sie: „ ich könnte sie abschneiden.“ „Quatsch, dann wäre ihr Pulli kaputt.“ „Ich könnte mich vielleicht anders bewegen. Ich glaube nie an ausschließlich nur einen Weg. Es gibt halt immer Wege, die wir als die Besten, Richtigsten erachten, aber es ist nichts, als erachten. Wir sind beschränkt.“ „Beschränkt?“ „ Ja, Marke Brett vor dem Kopf.“ „Beschränkt,“wiederholte er, und konnte nicht verhindern zu lachen. „Sie sind beschränkt, ich bin beschränkt,“ und ein heftiges Lachen platzte aus ihm heraus. So heftig, dass er sich lieber setzte, um die Fassung zurück zu gewinnen. „Tja gut gemacht, dein Lachen gepflückt, wie eine Blume, Platz genommen, wie in eine Vase stellen, und schon steht die Blume gefasst, wie wir es bestimmen.“ lächelte sie ihn an. Er mußte noch mehr Lachen, befürchtete aber, zum Opfer diese Lachens zu werden und das, das sollte auf keinen Fall passieren. Sie stand neben demTisch und sagte, „hier auf dem Tisch liegen immer Materialien, damit können wir etwas machen.“ „Wir?“ sein Lachen beruhigte sich. „Machen sie denn auch etwas? Muß ich es nicht allein tun?“ „Nein mußt du nicht, du mußt gar nichts tun hier. Du darfst, es ist eine Möglichkeit. Und wir dürfen Mittel benutzen.“ „Mittel, wofür?“ „Mittel um zu kommunizieren, können also anderes Material verwenden als Worte.“ Er schaute sie stumm an. „Oh,“ sagte Sie und betrachtete, was er auf dem Tisch konstruiert hatte, „ für mich, sieht es ein bißchen aus wie ein Erdbeben.“ „Wieso für sie?“ „Ja, für mich, ich weiß nicht genau, ob ich es sehe, wie es zu sehen ist. Im Sommer auf meiner letzten Reise habe ich ein Erdbeben erlebt. Es hat mich sehr erschrocken! Fürchterlich, die Bilder, die ich davon im Kopf behalten habe, fesseln mich immer noch. Das Bild der Zerstörung durch das Erdbeben bleibt mir wohl immer vor Augen, und diese Netzkonstruktion auf dem Tisch holt es hervor. Danach sah alles so aus, man könnte es so darstellen, eine Bewegung, die aus der Mitte des Platzes kommt, aus der Erde, besser aus einer Erdmitte, reißt alles um, alles folgte auf verschiedene Weise dieser Bewegung und stürzte durch einander, in einander, gegeneinander und endete in einer Karte von Zerstörung. Tropfen von Tränen, Wasserleitungen, von Regen, von Blut. Mir erschienen sie wie Haufen zwischen den Trümmern, den gestürzten Brücken, den unbegehbaren Wegen. Wunden an Steinen, ja, ich habe Wunden an Steinen gesehen. Jeder sagt mir, Steine können keine Wunden haben, doch ich habe sie gesehen.“ Sie sah ihm direkt ins Gesicht, „das habe ich gesehen auf dem Tisch, aber das heißt noch lange nicht, das es da liegt. Weißt du, wenn mein alter Vater, er ist ein wenig durcheinander schon in seinem Alter, hier herein käme und das sähe, und mich sähe, so würde es zwei Sekunden dauern und ich hätte ein solche Ohrfeige, dass ich zwei Tage Kopfschmerzen hätte, und alles nur, weil er durch nichts, durch gar nichts an den Krieg erinnert werden will. Manchmal kam es vor, dass er in die Küche kam und eine Tomate für Blut hielt, dann warf er den Küchentisch mit allem Essen vor Zorn um und verschwand anschließend bis zum Morgengrauen in der Stadt. Wir haben es lange nicht verstanden und wußten nie, was da eigentlich passierte und erst recht nicht warum, bis wir zufällig von meiner Großmutter erfuhren, dass er durch nichts an den Krieg erinnert werden wollte, und dass er geschworen hatte, selbst das Wort Krieg nie mehr in den Mund zu nehmen. Er wollte so weiterleben, als wäre der Krieg nicht gewesen. Bestimmte Dinge gab es, in denen erblickte er etwas, dass den Krieg wirklich machte für ihn. Meine Mutter bemerkte irgendwann, dass man sehr genau wissen mußte, wo und wie man rotes Gemüse platzierte, damit es nicht an Krieg und an seine Vergangenheit erinnern konnte. Um jeden Preis wollte er nicht an diese Vergangenheit rühren.“
Der Junge sah die Frau mit offenem Mund an. Sie sah ihn garnicht an, sie schien vertieft zu sein auf das Konstrukt von Knete und Fäden, dass er gemacht hatte. „Mein Neffe,“sagte sie, „der würde sicher behaupten, die roten kleinen Tropfen wären Diamanten und die Schnüre geheime Wegekarten, und er fände es sehr spannend und gut.“ Sie, drehte nun ihren Kopf vom Tisch weg und schaute zu ihm auf. „Und du ? was siehst du?“ Er fühlte sich gerädert, „Ich?“ stammelte er, „gar nichts, ich hab es nur irgendwie so gemacht. Nur um die Zeit zu vertreiben. Es ist Nichts für mich.“ „Wenn das Nichts so ist?“ sagte sie, „nichts, wie ein Erdbeben, wie ein Kriegsschauplatz, wie eingeheimer Diamantenplatz, nichts, wie Steine, Schnüre “ sie seufzte. Dieses Nichts, von dir erzählt ein bisschen, dass du vielleicht verstanden hast und weißt in deinem Inneren von Zerstörendem, Vernichtendem, von rumorendem, schmerzhaften Nichtsen. Es ist Nichts, sagst du, wegen Nichts, hätte ich dann Kopfschmerzen und einen Schlag auf der Backe? Aber, eigentlich verstehen wir unter nichts etwas, das es nicht gibt, und was es nicht gibt, ist nicht, also könnte ich keine Kopfschmerzen und keine rote Backe haben.“ Sie schob vorsichtig das Nichtsein auf ein Tablett. „Und das,“ sie hob das Tablett an, „sehen wir beide, ich sehe es, du siehst es, darum ist es nicht Nichts. Ich außerdem sehe noch vieles mehr, als Knete und Schnüre darin.“ „Sie waren in einem richtigen Erdbeben? Wie ist das?“ fragte er. Sie sagte, ich kann dir davon erzählen, wenn Du möchtest, nächstes mal, denn jetzt müssen wir gehen, hier wird jetzt geschlossen.“ Sie stellte das Tablett mit seiner Konstruktion auf ein Regal. Er schnappte seine Jacke, murmelte ein „ciao“,und hastete die Treppe hinauf. Er sah sich nicht nach der Sekretärin um, die noch am Schreibtisch saß und auf wiedersehen rief. Er ging gerade aus durch die Türe, die hinter ihm ins Schloß fiel, ganz gerade aus die Straße entlang. „Gerade aus“, dachte er. Zu Hause angekommen, stampfte er ohne ein Hallo an der Küche vorbei und brüllte: „ich geh da nie wieder hin!“ Seine Mutter kochte, sie hatte es gehört, das wußte er. „Ich geh da nie wieder hin! Den Scheiß, den ihr euch immer ausdenkt.“ „Klingt männlich,“ dachte er. „Ja, er war ein Mann.“ Als er sah, wie seine Worte förmlich durch die Tür knallten und seine Mutter erschütterten. Er wußte es, sie würde wieder und wieder bestätigt sein, dass er ein unmögliches Kind war, mit dem man nicht zurecht kommen konnte und nicht mal die Stunde dort, konnte diesen Jungen bändigen. „Bändigen,“ dachte er, „wie ein wildes Tier.“ „Ja, das wilde Tier, vor dem du mich nie beschützt, ist in mir ausgebrochen. Das hast du nun davon.“ Dann tat sie ihm plötzlich leid. Aber, sie war ja schon groß, Erwachsene mußten sich doch eigentlich auskennen mit den Tieren in uns. Waren es Tiere, er wußte es nicht. Ein Tiger, der im Angriffssprung ist, damit meinte er am ehesten diese Kraft zu beschreiben. Ihr ist man unterworfen, nein ausgeliefert. „Ich bin ihr ausgeliefert,“ flüsterte er. Am Ende, oder mittendrin wußte er nicht mal mehr, was los ist. Nur zerstören und um-sich-schlagen, wegtreten, irgendwann, wußte er nicht mal mehr, ob er einen Sachverhalt, ein Unrecht wegtrete, weg schreie, vielleicht will er nur dieses Tier aus sich weg haben. Es ist ihm Not mit dieser Kraft, die ihn ihr unterwirft und ihn mitreißt, so dass er jede Bestimmung verliere. Nein ein Hilfeschrei ist es nicht, aber eigentlich ist es doch ein Hilfeschrei, doofe Gedanken, warum kann alles nicht normal sein, warum, kann sie nicht damit umgehen. „Hilfe erbetteln, Hilfe vor mir selbst, ist überhaupt noch etwas von mir übrig, oder bin ich ganz gefressen von diesem Tier und in es übergegangen?“ Er zerfiel förmlich auf seinem Bett, auf das er sich warf. Am Ende steht dieses Hohle, dieser Schmerz von Verlassenheit, zu große Hallen, er viel zu klein, jämmerlich. Er war vielleicht wirklich nicht gut, nicht gut für seine Mutter, seine Eltern, sie wollten gute Eltern sein. Er scheiterte darin, sie zu einer guten Mutter zu machen. War sie schwach, konnte sie ihn nicht beschützen, und die wilden Tiere vertreiben und ihm zeigen, damit um zu gehen? Er hatte ein Recht darauf. Es sind ja keine Tiere, es gibt kein Tier in einem. „Es bin ich, ich muß damit leben.“ Ein Kummer, der wie einen sumpfige Kraft an ihm zerrte, am liebsten hätte er geweint, er wußte es, aber er weinte nicht, er konnte nicht. Seine Mutter weinte vielleicht in der Küche, wahrscheinlich weinte sie. Es tat ihm leid, gleichzeitig aber gab es ihm Hoffnung. „Dann wäre es noch nicht zu spät“, sagte er laut und stand auf um ans Fenster zu gehen. „Hoffentlich weint sie. Wenn sie nicht weint, dann ist es schlimm,“ er hielt seinen kopf zwischen seinen Händen, „ sehr schlimm.“ Er mochte sie doch. Er wollte ihr gefallen, er wollte, dass sie sich für ihn interessierte, stolz auf ihn war, er das Einzige für sie war, das Einmaligste. Er wollte sie beschützen, vor der Welt, den Lehrern, den Umständen, den Tieren. Er wollte, dass sie sich mochten. Im Unterricht hatte er einen Tiger im Käfig gezeichnet, er hatte die Stäbe sehr, sehr schwarz gemalt, er hatte versucht sie hart und kalt zu zeichnen, der Tiger war hinter diesen Stäben fast verschwunden. Nur seine Augen sah man noch genau, die Pupille zeichnete er so schwarz wie die Stäbe. Sie sind übergegangen in seine Augen vor seinen Blick, haben sich in seine Augen hineingebaut. Fürchtete der Tiger sich, vor der Weise seines eigenen Sehens. Warum hatte er diese Gedanken gehabt. Er war stolz auf seine Zeichnung. Doch er bekam eine schlechte Note. Der Lehrer sagte, er hätte die Aufgabe gehabt, die Schönheit und Majestät des Tieres heraus zu arbeiten, er habe den Käfig so sehr betont und der Tiger dahinter wäre kaum zu sehen, mit seiner goldenen Stärke, seine Majestät wäre verschwunden. Man sähe ihn kaum und schwarze Stäbe wären nichts besonderes zu zeichnen, das wäre leicht, einfach gerade Striche, und die Augen, die Pupille wäre zu dominant, das Licht spiegelt sich in Wirklichkeit in den Augen. Er sähe genau, dass er sich nicht angestrengt habe und den bequemen Weg gewählt habe, sich einfach keine Mühe gäbe. Es wäre eigentlich verschwendete Liebesmühe mit ihm auch noch diese danebengegangene Zeichnung zu besprechen. Er selbst hatte da gesessen und alles über sich ergehen lassen. Plötzlich hätte er die Zeichnung zerknuddelt und durch die Klasse geworfen, seinen Stuhl krachend umfallen lassen, dem Superzeichner aus der ersten Reihe im Vorbeigehen in den Rücken geboxt, um dann laut mit der Tür zu knallen. Als er die Klasse verlassen hatte, war er einfach weg gegangen. Dann, später war er doch wieder gekommen, hatte sich ins Klassenzimmer während der Pause geschlichen, hatte das Papierknäuel aus dem Mülleimer, in den es sicher ein Schüler getan hatte, ein Schüler, der war, wie er hätte sein sollen. Er hatte es heimlich in die Schultasche gesteckt. Jetzt lag es endknüddelt, zerknittert auf seinem Tisch. Er strich darüber. Er wollte soviel, soviel von seiner Mutter, für seine Mutter, ihr ein guter Sohn sein, sie zu einer guten Mutter machen. Wer war er? Er wollte großartig sein, sie sollte stolz sein. Aber der, der in ihm war, war nicht großartig. Tag für Tag kam das wilde Tier mehr zum Vorschein und schlimmer. Heute war sein Vater schon zuhause. Er war im Keller etwas reparieren. War sein Vater gut zu seiner Mutter? Nein, das glaubte er nicht. Seinem Vater war allgemein wichtig eine Frau zu haben, eine Wohnung, einen Keller und Kinder, einen Sohn. Er hatte immer das Gefühl, es ging seinem Vater nicht um das Wer. Ihm schien es, als ginge es seinem Vater um Sachverhalte. Ist ein Sohn ein Sachverhalt? Alle haben ein Haus, eine Frau, Arbeit, Kinder. Er war sicher, dass sein Vater enttäuscht war, es hätte besser kommen können, eine beliebig andere Frau… andere Kinder.. auf jeden Fall eine stillen Sohn. Seine Maschinen, die konnte er bis ins Detaille unterscheiden, seine Kinder bestimmt nicht, hätten sie nicht auffallende Merkmale, wie Frisuren, Vornamen und Lautstärken. Die Maschinen waren für ihn geschätzt, wertvoll, bezahlt, erarbeitet, die hatte er verdient, aber diesen Zustand zu Hause verdiente er eigentlich nicht. Wer weiß, so jedenfalls dachte er, dass sein Vater dächte. Er nahm die Familie als eine Gesamtheit. Sein häufigst ausgesprochener Satz ist, „Was tut das schon zur Sache.“ Die schönste oder besser die einzige Zeit, die er mit seinem Vater verbracht hatte, entstand nur, wenn er sich für die Maschinen des Vaters interessierte und er ihm beim Bauen diente. Das hatte er das letzte Mal vor zwei Jahren getan. Damals hatte sein Vater mal wieder gefragt, „kommst du mit in den Keller zu den Maschinen?“ Er war mit hinuntergegangen und wahrte Sicherheit. Er wahrte Sicherheit, wie er es sollte und schaute dem Vater zu. Vor zwei Jahren, da passierte es. Er hatte versucht, während sein Vater sehr konzentriert ein Metallblech lackierte, selber eine Maschine zu bauen. Er bemühte sich sehr, er versuchte alles, was er beobachtet hatte, genau um zu setzen. Es machte ihm geradezu Spaß. Er konnte auf einmal seinen Vater verstehen. Wenn zum Spass ein Gefühl von gewünschter, angenehmer Nähe kommt, einer Gemeinsamkeit innerhalb einer Bezogenheit, erweitert sich der Spass zur Freude. Er fühlte sich gut, wie gut er sich konzentrieren konnte und wie er eins zum anderen fügte und es passte. Er hatte rote Wangen bekommen. Sein Vater sah kurz auf und sagte, „du wahrst aber Sicherheit, nicht wahr. Der Lack ist phantastisch, er leuchtet sogar auf deine Backen.“ Da, kurz bevor es ihm schien, dass ein wunderbarer, kleiner Motor losgehen konnte, er es seinem Vater vorführen wollte, fiel ihm eine Schraubzwinge so aus den Händen, dass sie genau auf die Verkabelung seiner Maschine traf. Es gab einen Knall und Maschinenöl rann über den Tisch, schwere, schwarze, dichte Flüssigkeit. Sein Vater zuckte zusammen und ließ vor Schreck seinen Pinsel fallen. Dieser traf auf das frisch gestrichene, gerade fertige Blech. Ein scharfes Brüllen schnitt die Worte, „Was machst du da!“ in den fensterlosen Kellerraum. Pranken rissen ihn an den Armen hoch, dass der Hocker, auf dem er gesessen hatte, laut scheppernd um krachte. „Ich habe dir doch gesagt, du sollst nichts eigenes machen! Du sollst warten und gucken, und tun was ich dir sage. Jetzt ist meine ganze Arbeit umsonst, das Blech kann ich gerade wegschmeissen, der Lack war so teuer. Und das Öl, alles ist versaut. So was dämliches! Wie kann man so blöd sein!“ Im Zorn hatte er ihn weggestoßen. Der Junge war auf die Stufen der Kellertreppe gefallen und hatte sich blaue Flecken zu gezogen. Schlimmer aber war etwas Diffuses, das ihn auf allen Ebenen komplett durchdrang. Er fühlte einen großen Schmerz, die Stöße am Körper von der Treppe waren dagegen lächerlich. Das Diffuse durchfuhr ihn, umhüllte ihn, nahm ihn ein, veränderte ihn. Etwas Schwarzes raubte ihn aus sich selbst heraus, stopfte ihn aus mit Schwärze. „Arsch!“ brüllte er. Woraufhin sein Vater die Treppe hoch raste und ihn rüttelte und anbrüllte, was hast du gesagt, da, auf einmal hatte er gespuckt. Er hatte seine frei baumelnden, bodenlosen Füße gefühlt, seine Arme dünn in den Schraubzwingen der angeblich, väterlichen Hände, seinen Kopf winzig klein, hilflos, verzerrt, dass dieser Ekel ihn überkam und er spuckte. Er fühlte einen Schlag auf der Wange, fühlte seine Füße auf dem Boden, seine Arme fallen. Die Tür knallte heftig. Dann war es still, totale Stille. Er hielt sich nicht den Kopf, nicht die Rippen, er fühlte keinen Schmerz. Er fühlte Abschied.Abschied und Erkenntnis.Er war also der, der nicht mitspielen konnte. Zum Abendbrot ging er nicht hinunter. Keiner rief ihn, fragte nach ihm. Ihm war elend. „Nicht weinen,“ dachte er kurz. Er zerriss ein Schulheft, das ihm gerade in die Finger kam. Später kam seine Mutter die Treppe herauf, sah vorsichtig ins Zimmer hinein. „Geh dich entschuldigen, es wird schon wieder, vielleicht kaufst du von deinem Taschengeld eine Dose Lack morgen, für die kleinste Dose könnte es reichen, dein Vater hat sich erschrocken, es wird schon wieder und du durftest doch auch nicht mit seinen Sachen…..“ Er stopfte seinen Kopf unter das Kissen, „ich habe dir noch ein Brot und eine Flasche Wasser gebracht, und besser schläfst du dann, es wird schon wieder, du mußt halt lernen, dass man sich benehmen muß, gehorchen muß.“ Er ließ sie reden, sie stellte den Teller und die Flasche auf seinen Tisch, klopfte unsicher auf die Bettdecke, die er sich über den Kopf gezogen hatte. „Entschuldige dich und dann geht es wieder.“ Er hörte sie die Treppe hinunter gehen. Er blieb unter dem Kissen und der Decke liegen. Erst, als er das Gefühl hatte ganz aus Stein zu sein, stand er wieder auf. Das Wasser rührte er nicht an, das Brot auch nicht. Das war vor zwei Jahren. „Diese Frau,“ sagte er, „zu der geh ich nicht mehr, was soll das bringen.“ Und doch mußte er an die Stunde bei ihr denken. Es ging ihm nicht aus dem Sinn, das Erbeben auf dem Tisch, das Rot, die Geschichte von der Tomate und ihrem Vater. Ihr Vater hatte ja seine Küche nicht mehr erkannt, was hatte er in der Tomate gesehen? Damals im Keller, fragte er sich, hatte sein Vater ihn da gesehen? Hatte er ihn überhaupt gesehen? „Weg mit dieser Frage, aus dem Kopf damit. Lange her, verjährt,“schimpfte er. Er hatte Abschied genommen! hatte er? Nein, er war an einen Ort geraten, auf dessen Ortsschild -Erkenntnis Abschied- gestanden hatte. Das war das einzig Klare, was ihm geblieben war, von dem im Nebel versunkenen Geschehen damals. Er überlegte, man konnte nur von etwas Abschied nehmen, dass auch da war. War er für seinen Vater da gewesen. Es war, wie es war. Er hätte nicht spucken dürfen, nicht spucken sollen. Er hätte besser handeln sollen. Er hatte einfach auch etwas bauen wollen, er hatte keine Erlaubnis, er hatte Unheil angerichtet. Das Gesicht seines Vaters, er hatte gesehen, gesehen wie die Spucke traf und verletzte, wie sie, kaum hatte sie seinen Mund verlassen, zu Kieseln geworden war. Ein einziger Stein auf einer Windschutzscheibe verursacht lauter Risse im Glas. Eines Tages fällt es dann ganz heraus, ist keiner weiteren Belastung gewachsen. Sein Vater war auch nie mehr geworden, wie vorher, dachte er, oder wünschte er sich das nur? Die Kiesel hatten sein Antlitz des Vaters getroffen. „Ich bin schuldig.“ Er und kämpfte seit dem mit dieser Last um sie tiefer und tiefer weg zu graben. Oder, war es doch abwaschbar gewesen, Spucke halt? Hatte sein Vater es doch weit hinter sich gelassen, einfach abgewaschen. Wünschte er, dass sein Vater in dem Verlieren seines Sohnes auch Schmerzen hätte? Dass Ihm dieser Schmerz, den er seinem Sohn zu gefügt hatte, leid täte? Würde ihm das beweisen, dass er seinem Vater wichtig war? dass sein Vater Ihn wahrnahm? Ihn erkannte? „Tut nichts zur Sache,“ sagte er ins Zimmer hinein. Dachte er das? und ging wie eh und je in den Keller und baute an seinen Maschinen. War wirklich etwas geschehen? Er hatte sich wahrlich gefragt, ob sein Vater ihn vermisse, hatte diese Gedanken aber sofort abgetan und vertrieben. Sein Vater ist doch der Bestimmer. „Was hätte er verloren, wenn er mich noch einmal angesprochen hätte? Er hätte mich wieder bekommen und ich hätte ihn bekommen können. Dumme Gedanken, ich will nicht.“ Einmal hatte er seine Mutter versucht nach seinem Vater zu fragen. Sie hatte gesagt, dein Vater ist ein Mann und ein Mann, wie dein Vater sieht alles, wie es ist.“ „Wie es ist?“ „,hatte er wiederholt.“

Einmal war sein Onkel auf dem Geburtstag seines Vaters zu ihm gekommen und hatte ihn gefragt, „und, wie läuft es in der Schule?“ „Ganz gut,“ hatte er geantwortet. „Ganz gut.“ „Naja, das ist auch das Mindeste, was man von dir erwarten kann, wo du es so gut hast. Wir früher, beim Opa, wir hatten nix zu lachen, kein Zimmer, kein Essen, immer nur Kohlenschippen.“ „Bist du so alt ?“hatte er, ein Glück nur gedacht, und nicht gesagt. „Aber Franz, es hat doch keine Kohleöfen mehr gegeben!“ sagte die Frau seines Onkels. Großmutter fiel ihr sehr streng ist Wort, „ hör mal, mach ihm nicht sein Spiel kaputt, du mußt noch viel lernen, du hast noch nicht begriffen, Männer brauchen das. Lass sie reden, wie sie reden, sonst wirst du es bald nicht mehr schön zu Hause haben.“
Er hatte es sich gemerkt. Ja, er hatte es bemerkt. Sie verlangten bewußt ein Wegschauen auf Kosten eines Kindes, eines anderen. Und wenn schon, einfach wieder wegschauen, das ist halt so und nicht wichtig, Schlamm drüber. Wirkungsvolle Methode wahrscheinlich, hatte er sich gedacht, irgendwann bemerkt man nichts mehr und dann merkt man sich auch nichts mehr, so oder so. Fragen sind nur anstrengend. Er zog den Mund angewidert hoch, dafür das Leben, das Zusammensein opfern? Wenn ich Sportler wäre, dann beschäftigte ich mich nur damit, das wäre konsequent und die Resonanz berechenbar. Dann wird man ernst genommen, vielleicht sogar schon als Kind, man muß irgendwas besonderes können und ausüben, das verschafft einem Ruhe und Anerkennung. Und Kinder verdienen kein Geld, er hatte sich mal ausgedacht, was wäre, wenn er seinem Vater, eine riesige Garage kaufen könnte und alles was er zum Maschinen bauen bräuchte, dann würde sein Vater ihn lieben, war es so? Für die Erwachsenen schien Geld zu haben, das Wichtigste zu sein. Alles andere geriet hinter diesem Wichtigen in Vergessenheit und Wertlosigkeit. Wenn man Geld hatte, gab es kein Problem mit Inneren Tieren, die Erwachsenen taten jedenfalls so. Auch konnte man sich von den meisten Sachen freikaufen. Könnte man einfach Scheine auf den Tisch legen, und die Spucke wäre plötzlich Gesichtscreme? Wenn sein Vater ihm jetzt Scheine auf den Tisch legte, wäre dann alles für ihn wieder gut? Nein, niemals, er würde die Scheine nicht nehmen, sie hinter ihm herschmeißen, „da, deine vergifteten Scheine!“ So wäre es für ihn. Warum eigentlich. Er dachte auf einmal an Mönche. „Ich verstehe diese Welt nicht und denke doch sie ist schön, spannend, könnte schön sein, aber ich kann ihr nicht mehr viel abgewinnen. Ich komme mir älter vor als alle hier und schon so müde, alles so müde.“ Während all dieser Gedanken hatte er seine Schultasche gepackt und machte sich auf den Weg. Dann war er zur Schule gegangen. Der Schulhof war voller Schüler. Einer unter vielen, einer unter vielen, er hatte es satt, schlecht gelaunt fühlte er Verachtung, alle kamen ihm wie Schlafwandler vor, und er konnte es noch nicht. War man, wenn man es perfekt konnte erwachsen? Er sah dort Fritz mit einer Gruppe Leute stehen. Da viel es ihm ein, jenes Männer brauchen das.„Hallo Fritz!“ „Hallo, warum kommst du erst jetzt?“ Es kostete ihn gar keine Mühe zu antworten: „ach, ich hab’ eine harte Nacht gehabt, war die letzten 24 Stunden im Keller.“ „Deshalb warst du gestern nicht da, nein, wie hart.“ Ja, hart, dachte er, sagte aber: „Och tut nichts zur Sache. War nur, du verstehst schon, dieses, weil ich wieder das und das, und nicht einsehe mich zu entschuldigen, nein den gefallen tue ich ihnen nicht, mußte ich im Keller bleiben. Sie schlossen aber nicht ab. „Komm hoch Junge!“ brüllte irgendwann mein Vater. das hätte ihm so gepasst, ich blieb aber unten. Darüber ist er total ausgeflippt, bis er mich in Ruhe ließ, und ich blieb einfach im Keller. Hunger hatte ich schon, hab mir so ein Glas Apfelmus, das da gelagert war reingezogen und einen Wasserhahn gibt es im Keller. So lief es.“ Als die anderen Jungen bemerkten, dass Fritz ihm so aufmerksam zu hörte, lauschten auch sie mit zunehmender Bewunderung. Es ging sehr gut, er begann plötzlich selbst zu glauben es sei so gewesen. Dummerweise wäre er gegen eine Öldose gestoßen und das hätte unerträglich gestunken. Hier brach er ab, wir müssen in die Klasse.In den nächsten Tagen, er war jetzt der Interessanteste, schien es, als habe er neue Freunde.Es klappte und er begann immer mehr Dinge zu vergrößern und auf zu bauschen. Es machte Spaß, fühlbar Spaß. Gleichzeitig legte er sich einen gelangweilten Gesichtsausdruck zu, was das ganze sehr unterstützte. Es wurde ihm ein Sport und zwar mit Erfolg. Er setzte die Latte höher und höher, langsam alles immer ein bißchen unmöglicher werden lassend, bis Gudrun aus seiner Klasse missbilligend sagte, dass ist doch Quatsch. Sicher er war sehr weit gegangen, hatte behauptet er nähme, denn klauen könne man das nicht nenne, Nähgarn für seine Mutter aus dem Kaufhaus. Er sähe nicht ein, wozu sie das auch noch bezahlen solle, wo sie doch die Sachen damit nähte, die sie einst dort gekauft hatte. Er hörte ihre Stimme fies und zischelnd: „das glaubt ihr ja wohl selbst nicht und seine Mutter würde das nie akzeptieren, und solche wie ihr schon garnicht und außerdem, welcher Junge würde in deinem Alter für seine Mutter Faden klauen, wenn nicht gerade Hungersnot oder Krieg ist, was bist du für ein Muttersohn.“ Alle Jungs erschraken mit ihm. Sie starrten ihn von oben bis unten an und dann wandten sie sich ab mit den Worten: „hätten wir uns denken sollen, mit dem stimmt was nicht …Etwas wand sich durch seinen Körper und biß zu. Er währte sich, dabei warf er den Tisch, der gerade vor ihm war um. Der darauf stehende Kaffeebecher viel erst spritzend, dann klirrend hinunter, da zwischen flogen Bücher, Hefte, und Kugelschreiber. Ein Krach und braune Soße ergoß sich weiße Blätter. Diese sich leise breitende, braune Flüssigkeit löste neben seiner Wut auch noch Angst aus, was ihn noch rasender machte. Der Lehrer drehte sich erschrocken um und raste herbei. „Was ist los? Wer war das?“ Er sah Finger auf sich gerichtet, widerliche Schlangenfinger, an deren Ende ganze Burgen zerbröselten. Ja, Burgen, aufgeräumte, zweckerfüllende Steine. Das Wort Freunde dröhnte durch ihn, fiel schreiend in die Schlucht, er ersehnte den mitreißenden Sturz, hatte er geglaubt, gehofft am Ende dieser Finger wären Freunde. Nicht schwach werden, nicht denken, nicht fühlen, sonst bräche Schwäche auf und das wäre sein Disaster. Großmutters Worte, dann wirst du es schwer haben, fielen ihm ein. Aber wo hatte Gudrun es jetzt schwer? Seine starke Hand, keine Schlangenfinger, griff nach dem Tafelschwamm und er schleuderte ihn in Richtung Gudrun. Der Tafelschwamm landete mitten in ihrem Gesicht, die Kreidensoße spritzte über ihren Pullover und rann über ihr Gesicht. Kurz war es ganz still, das durfte man nicht tun. Ihr Gesicht schien sich mit dem Gesicht seines Vaters zu mischen.
Die Risse im Gesicht seines Vaters wechselten sich ab mit Gudruns aufgerissenem, erstaunten Blick. Dieser Blick ist der Blick eines Menschen, der aus tiefstem Schlaf gerissen erwacht. Jetzt weißt du, schrie es in ihn hinein, denn außen war nichts zu hören, dass man wach sein muß, dass wir hier wach sein sollten, und nicht einfach ganze Systeme zertreten so nebenbei, als wäre es nichts, sie zerfetzen, wie irgendein Schokoladenpapier. Die Tür war verstellt von, ihn anstarrenden Mitschülern. Vielleicht hatten alle ein bisschen Angst vor diesem plötzlichen Geschehen, das alle angriff. Der Lehrer fand zuerst die Besinnung wieder, packte ihn am Arm, und schob ihn wutschnaubend aus der Tür. „Du gehst zum Direktor. Den Weg findest du ja und wenn nicht, dann weißt du ja was es geschlagen hat.“ Wenn nicht, dachte er, seine Füße würden ihn tragen aber nicht dorthin. Es war schwer jemand zu tragen, der soviel wackelnde Gewichte auf sich geladen hatte, die nicht sichtbar waren, und von denen man auch noch nicht wußte, ob sie in ihn hinein fielen oder nach Außen hinaus. Schließlich war er die Treppen hinunter an den Schulhof gelangt. Dort in einer Ecke, war die Schöne, er wußte ihren Namen nicht und nannte sie im Geheimen so. Sie hatte die schwärzesten Haare, die er je gesehen hatte. Auf dem Weg zur Schule schlich sie immer ganz unscheinbar an den Häusern entlang. Einmal war er schweigend neben ihr her gelaufen. Was hätte man auch sagen sollen. Sie hatte auch nichts gesagt. Es schien ihm nur, als wäre sie froh, dass er auch da lief. Ständig hatte sie sich umgesehen. Seltsam hatte er gedacht. in welche Klasse sie wohl geht?Einmal hatte es sie auf dem Schulhof beobachtet und ausversehen laut vor sich hingemurmelt: „welche Schönheit. Sie ist schön, ich glaube, sie verkörpert das Wort.“ Fritz hatte ihn gehört und gefragt: „was labberst du vor dich hin? Selbstgespräche der Herr, du bist doch ballaballa.“ „Hab’ an ein Auto gedacht, dass ich gestern gesehen hab’, so einen Flitzer, da ist mir klar geworden, dass das Aussehen des Lackes, das Wort schön hervorlockt.“ „Wie redest du?“hatte Fritz gegrinst. Jetzt sah er sie dort, in der Ecke des Ganges, an die Wand gedrückt. Zwei Jungen und ein Mädchen redeten auf sie ein. „Stell dich nicht an, du brauchst uns nur dein Haar abschneiden zu lassen. Und gib zu, das ist echtes Hexenhaar ist.“ Ein Junge rief: „los, abschneiden! Wir halten sie fest und du schneidest,“ befahlen sie dem mit ihnen machenden Mädchen. „Los, die hat hier eh nix zu suchen, mit ihrem pechschwarzen Haar. Pech, wie gesagt, es bringt Pech, dieses Haar, wir müssen es abschneiden und sie vom Pech befreien.“ Sie schrie nicht, aber dicke, ungewöhnlich dicke Tropfen kullerten Ihre Wangen hinunter. „Gleich macht sie in die Hose, diese Fremden machen sich immer in die Hose,“ grinsten die Drei. „Sie können nichts als klauen und rauben unsere Babys, hat mein Großvater immer gesagt. Unser Hab und Gut wollen sie uns wegnehmen, unsere Arbeit, unser Geld.“ Seine Füße, seine Beine rasten los, sein Körper mußte gelb aussehen, wie eine Flamme, er stürmte auf die Drei zu, trat einem in den Bauch, dem anderen schlug er auf die Nase, dass dieser aufheulte, das Mädchen zog er an den Haaren, so das es zu Boden ging. Er hörte seine eigen Stimme schreien: „Lasst sie in Ruhe, lasst sie alle in Ruhe!“ Die Schöne sah ihn an, mit ihren großen, dunklen, warmen Augen. Er fühlte ihre Tränen in seinen Augen. Dann lief sie eilig davon und verschwand hinter einer der nächsten Türen. In dem Moment kam der Hausmeister. „Was ist hier los, warum seid ihr nicht in euren Unterrichten?“ Er sah den gekrümmten Jungen an die Wand gelehnt und den anderen Jungen, der schluchzend seine bluttropfende Nase hielt. Das Mädchen hockte noch auf dem Boden und wimmerte: „er hat versucht mir alle Haare aus zu reißen.“ Er selbst stand da erschöpft und fuhr sich erschrocken über seine Wangen. Wie konnte es sein, dachte er, dass ihre Tränen auf seiner Wange waren. Er konnte an nichts anderes denken. Der Hausmeister befall alle vier zum Direktor.
So hatte aller Ärger vielleicht begonnen, dachte er, nein begonnen nicht, aber von da an, konnte er nicht mehr zurück. Er erhielt Strafen, seine Mutter war entsetzt und bestürzt: „unser Kind…, .“ Sie hatte es auf einmal schwer mit den Frauen in ihrer Straße, sie durfte nicht mehr teilnehmen am morgendlichen Marktschwätzchen, und wenn sie irgendwohin ging, tuschelten sie hinter ihrem Rücken. Dieses Mal, als sein Onkel vorbei kam, sagte dieser: „dass du undankbar bist, wußte ich schon immer. Nun, dass du dich prügelst, ist ja schon mal ein gutes Zeichen, aus dir kann noch was werden. Nur Junge,“ und er zog ihn dicht an sich heran, fasste mit der Faust seinen Pullover, zog ihn noch dichter, „wenn du dich prügelst, ich bin stolz, dass du so stark bist, suchst du dir von jetzt an nicht die falschen Gegner aus, verstehst du! Ausgerechnet mit diesen Jungs solltest du Dich gut stellen, weißt du wer ihre Väter sind, jedenfalls die sind was geworden, nicht so, wie dein Vater. Und was garnicht geht, dass du dummer, naiver Junge einer von denen, du weißt schon, zu Hilfe kommst, die haben immer Dreck am Stecken und wenn es einen von denen trifft, trifft es immer den Richtigen. Guck dir doch das Viertel an, wo die untergebracht sind, auch noch untergebracht von uns, um uns zu beklauen. Wenn ich dich erwische mit denen, dann vergißt du aber nie mehr wer du bist. Hexen sind das, die braten dich.“ Er ließ von ihm ab und schubste ihn aus der Tür. Sein Gesicht tat weh, es hat Risse, ihm kam es vor, als wären diese Worte schlimmer als Spucke, schlimmer als Schläge. Damals, wie hatte es alles soweit kommen können, dachte er, und im Keller, wie war es soweit gekommen, wer hatte angefangen. An jenem Tag, er hatte versucht etwas zu bauen und war gescheitert. Er hatte in ein Gesicht gespuckt, in das Gesicht seines Vaters. Er hatte dem Gesicht seines Vaters Risse zu gefügt. Wilde Schuldgefühle weckten ihn nachts und legten sich als schweres Gewicht auf sein Leben. Er wachte oft auf mit einem nassen Gesicht, brauchte immer lang um wieder ein zu schlafen. Eine Nacht, als er in wilder Angst aufwachte, er hatte geträumt, sein Onkel fege ihn in einen glühenden Container. Im Schlaf hatte er so laut geschrieen, dass er selbst davon aufwachte. Er saß im Bett und versuchte die Wand zu erkennen. Plötzlich fühlte er etwas feuchtes auf seiner Wange, er dachte an sie, sah ihr Gesicht, ihre schwarzen Haare, ihre dicken Tränen. „Ihre Tränen sind bei mir.“ Es war das erste mal, dass er lange und innig weinte, bis er auf seinem nassen Kissen einschlief. Als er erwachte, fühlte er eine ungewohnte Leichtigkeit. Er fühlte jung, aber klein. „Bin ich noch klein?“ dachte er, „naja ein Kind. Ein Kind braucht …,“ er dachte nicht weiter. Seine Augen waren geschwollen sein Gesicht weich. „Ich bin kleiner geworden und die Öffnung in die Welt auch, sehr viel kleiner.“ Er mußte aufpassen, aufpassen, dass das Schöne nicht zerstört würde. Er hoffte sie zu treffen auf dem Hinweg. Er vergaß die Strafen, die Demütigungen, die Einsamkeit, die um ihn herum entstanden war. Es war ihm geradezu recht, er trug ihre Tränen wie eine Rüstung und gleichzeitig wie einen kostbarsten Schatz, eine Verbindung. Sie schützten ihn vor der Welt, aus der er sowieso herausgefallen war? Er würde das Schöne retten, beschützen.
Telefonate mussten geführt werden, Elterngespräche, Lehrergespräche, Strafen abgearbeitet werden. Er hatte sich entschuldigen müssen, sagen müssen, er hätte nicht werfen sollen, nicht spucken sollen, nicht prügeln sollen. Aber er tat es nicht, er konnte nicht. Aber aus der Nähe dieses Mädchens zu müssen, hätte er niemals riskiert. In eine andere Schule oder in ein Erziehungsheim zu müssen, durfte wegen ihr auf keinen Fall passieren. Wenn dieses Mädchen in Gefahr wäre, wenn angedroht würde, dass man ihr etwas antäte, hätte er alles getan es zu verhindern, auch sich entschuldigen. Wenn ihr etwas geschähe würde er zerbröseln. Schließlich, da er nur noch, ja, sagte, ließ man alles ruhen. Verdonnerte ihn zu Sozialstunden und diesen dämlichen Stunden bei jener Frau. Nein, er würde nicht mehr hingehen! Vielleicht einmal noch, er müßte sie einiges fragen. Was hat sie gesehen, als ihr Vater die Tomate sah, dass interessierte ihn brennend. Auf wievielen Ebenen geschieht eigentlich wieviel gleichzeitig? Vielleicht hatte sie von diesen Tieren, die ihn überkamen, es waren ja nicht Tiere, Tiere, dachte er, sind viel netter. Selbst wenn sie einen fressen, tun sie es nicht, weil sie einen quälen wollen, sie tun es, weil sie Hunger haben und Nahrung brauchen oder Angst haben, dass man ihnen die Kinder und das Leben nimmt. Nein, er meinte dieses im Menschen, dieses vereinnahmende, was macht, dass man sich nicht aushält, vor sich Angst hat, und wahllos explodiert? Konnte man überhaupt so eine Frage stellen? Ihm fiel plötzlich ein Bild ein, eine exakte Mauer als Viereck auf dem Tisch aus Steinen gebaut und mitten darinnen eine Figur. Er würde das so auf den Tisch bauen, während er auf sie wartete, er würde frühzeitig kommen, er wollte wissen, was sie dann sah. Auf einmal fühlte er sich belebt, und sagte laut vor sich hin: „die spinnt zwar die Frau, aber es ist interessant.“ Sollte es wahr sein, dass er sich schon nach der ersten Stunde auf die zweite freute. „Nein,“ sagte er laut. „Schwachsinn, es wird hohl sein, wie immer, ich darf nicht darauf reinfallen. Vielleicht zieht sie alle Register und dann schnappt sie mich, -Klappe zu, Affe Tod- oh nein, jetzt klang ihm dieser Spruch alles andere, als lustig, schlimm, makaber, wenn man es auf sein eigenes Sein übertrug. Eigentlich auch egal, dann bin ich eben der Geschnappte, alle kriegen dann das, was sie jetzt von ihm erwarteten. Soll sie doch machen, was sie will, viel elender kann es kaum werden.“ Die Woche verlief, schlecht. Schlecht, weil die Schöne garnicht in die Schule gekommen war. Für ihn war es eine sinnleere Woche. Er hatte keine Anfälle, aber auch nichts anderes. Er tat wie ferngesteuert, was man von ihm wollte und, als er nun auf dem Weg zu der Stunde war, und daran dachte, dass sie vielleicht oder sicherlich etwas zu ihm sagen würde, wurde ihm bewußt, dass keiner mit ihm gesprochen hatte. Aufträge und Befehle hatte er erhalten, aber keiner hatte mit ihm Worte geteilt. „Kannst du mal den Tisch decken?“ hatte seine Mutter gesagt. Der Lehrer hatte ihm Arbeitsblätter gegeben ohne ein Wort. Als er sie erledigt wieder abgab, erhielt er als Reaktion ein „Hm.“ Das waren diese Woche die einzigen Worte. Er bemerkte nicht, dass er ein wenig zitterte, als er, nachdem die Sekretärin in aufgefordert hatte, die Treppe in jenen Raum hinunterstieg. „Sie wird jeden Moment kommen,“ rief die Sekretärin ihm nach, „setzt dich schon mal an den Tisch unten.“ „Tu ich es?“ fragte er sich. Es kostete ihn auf einmal Kraft und Mut. Ein kleines Fünkchen eigener Wille wühlte noch in ihm und warf ihn ins Tun. Eilends nahm er die Schachtel mit kleinen Backsteinen die auf dem Tisch stand, und baute das Viereck. Die Mauer war als hohe Mauer erkennbar. Er wühlte in dem Glas mit winzigen Figuren, und setzte schließlich eine graue Figur, die einen winzigen roten Fleck auf ihrem T-shirt hatte, in die Mitte der leeren Fläche, die durch die Mauern entstanden war. Gerade als er fertig war, flog die angelehnte Tür auf und schepperte gegen die Wand. „Ohlala! Nicht so heftig, Frau Professor!“ rief sie und schloß die Tür hinter sich gezielt behutsam. An ihrem einen Arm spielte ihre Handtasche gerade Rutschbahn, am anderen Arm verknotete sich der erst des halbausgezogenen Mantel. Er mußte sich sehr am Riemen reißen um nicht zu lachen. Doch als sie sich platschend auf den Stuhl geworfen hatte und „geschafft,“ rief, konnte er es nicht mehr vermeiden. „Man sollte alles rechtzeitig und ordentlich machen,“ sagte sie, „sonst,“ und weil sie ihm direkt freundlich in sein Gesicht sah, mußte sie auch lachen. „Eigentlich muß ich mich schon wieder entschuldigen,“ sagte sie, „nicht eigentlich, und ich muß es nicht nur, ich will es, also,“ sie streckte ihm ihre Hand entgegen und sagte: „Guten Tag Hans-Peter! Entschuldige bitte, dass ich zu spät bin! Und danke, dass du so geduldig gewartet hast.“ Er sah sie an und sah in ihr etwas Neues, sie entschuldigt sich bei ihm, sie bedankt sich bei ihm. Verdutzt mit einem fragenden Ausdruck, fand er seine Stimme: „Guten Tag, ihm, schon gut.“ Dann fügte er hinzu: „ sind sie Professorin?“ „Nein,“ lachte sie, meinst du, wegen vorhin, mit der knallenden Tür? Nein, ich sage es nur gerne selbst zu mir. Klingt doch aufheiternd. Und man behauptet doch einem Professor passiert das, weil er soviel Kluges denkt. Anderen unterstellt man aber Dummheit und trampeliges Ungeschicktsein. Ist so ein Trick, dann werde ich erinnert, ein bißchen Achtung vor mir selbst zu haben, und mich nicht zu beschimpfen. Außerdem hatte ich ein Kinderbuch, in dem die Professoren super Leute waren, weil sie immer weiter fragen und nachdenken und immer auf der Suche sind. Sie wissen viel und geben es weiter. Im Kinderbuch war es so, in der Welt? Na, ich weiß nicht. Gleichzeitig ist so was Schmunzeliges darin, wenn ich es zu mir selbst sage, dass es mich gleich sinnvoller macht. Es ist garnicht so leicht, die Achtung vor sich selbst nicht zu vergessen, sie ist leicht zu verlieren, wenn man sich so durch einen ganzen Tag bringen muß. Naja und ein Professorin hat so schwer an Ihrem Wissen und an all der Lese- und Lernzeit, die sie aufbrachte zu tragen, dass man Verständnis haben muß und nicht böse sein kann, wenn sie zu spät kommt und sich tollpatschig benimmt. Und nun zu Dir?“ „Für sie ist alle so,..“erbrach ab. „So?“ Sie sah ihn ermunternd an. „So, ich weiß nicht, spannend, vielleicht?“ „Ist es denn nicht so?“ Sie sah auf den Tisch. „Du warst sehr pünktlich hier, uns hast sogar schon etwas gestaltet. Hui, ui, Schnellmacher.“ Sie zog ihren Ordner aus ihrer Tasche und einen Stift. Dann sagte sie, wobei sie ihn direkt an sah, „und mich persönlich freut das richtig, ja, mich freut es und mein Tag ist gleich besser.“ Er fühlte sich verlegen, und vollkommen erstaunt. Sie aber tat, als wäre sein Verhalten völlig normal. Sie fand es auch noch für sich erfreuend. Was nun, dachte er und eine Unsicherheit machte sich gefährlich breit. „Scheinbar,“ sagte sie, „ist es leichter, in bekannte, unfreundliche Umgangsweisen zu kippen, als ein wirkliches Neuland zu betreten, was ja eigentlich jede Begegnung und jedes Gespräch ist. Bei unfreundlichen Handlungsweisen scheinen uns wohl die Konsequenzen absehbarer, verlässlicher und wahrscheinlich Nähe verhindernder, als freundliche Umgangsweisen.“ Er hörte ihr zu. Ihm kam es vor als säße er an einem Fenster eines Zuges oder Flugzeuges und ihre Worte zögen außen, aber sehr stark auf ihn wirkend, an ihm vorbei. Wolken, Sonnenlicht, Berggipfel, Landschaften, seine Ohren und ließen geschehen. „In meinem Leben gab es mal eine Zeit, da habe ich immer etwas umgeschmissen, wenn ich ein Zimmer betrat, es hat immer Ärger gegeben, je nachdem was es war, auch großen Ärger. Heute weiß ich, dass ich damals Angst hatte mich zu verlieren, und wenn die anderen nicht auf mich reagierten, wurde meine Angst mich zu verflüchtigen größer, dann gab es Krach, den ich gemacht hatte, und so war ich da, für alle laut und vollständig vorhanden, ausgeschimpft, gerüttelt, fort geschickt, aber nicht verloren. Jetzt hatte ich berechtigten Kummer, und Zorn, denn jetzt hatte ich einen Grund und eine Richtung.“ Er saß da mit leicht geöffnetem Mund. „Ich hätte mich Vielleicht trauen müssen, zu sehen warum ich mich so verloren fühlte. Auch hätte ich andere fragen können, ob sie mich bemerken. Ich hätte mich mehr ernst nehmen sollen und was in mir vorging in Worte fassen, aber das traute ich mich nicht. Und so zog sich das Seil, wie ich immer sage, fester und fester um den Hals herum. Sie unterbrach sich, kennst du Peter und der Wolf, wie er auf dem Baum sitzt und der Wolf läuft immer um den Baum herum, tadaadadam?“ brummelte sie mit tiefer Stimme. „Ja,“ sagte er. Innerlich sah er dieses Bild vom schlauen Peter auf dem Baum vor sich. „Es ist immer mutig etwas zu suchen,“ sagte sie, „und dieser Mut in Bezug auf mich selbst fehlte mir. Etwas benennen, heute weiß ich, ich hatte Angst es nicht zu schaffen, Angst das mich keiner mag, Angst die anderen zu brauchen, und lieber, als zu zu geben, dass ich sie brauche, dass ich ihnen gefallen wollte, dass ich wollte, dass sie mich mögen, machte ich kaputt, es war leichter und ungefährlicher, denn ich wußte im Voraus, welche Antworten es darauf gibt und was passieren würde, und dass ich damit umgehen könnte, eine sichere Sache eben. Ich würde abgelehnt und immer unverstehbarer werden. Ich war jedenfalls einordenbar ein Runterschmeißer, und hatte eine gewisse Sicherheit in diesem verläßlichen Zustand. Er bemerkte, dass ihre Augen an der Mauer, die auf dem Tisch aufgebaut war, entlang liefen. An den Ecken blieben sie kurz hängen, balancierten dann in die andere Richtung weiter. Ihr Blick fiel auf die graue Person. Sie schwieg. Er sah auch die graue Person an. Sie stand in der Mitte einer weiten Tischwüste um geben von einer viereckigen, hohen Mauer. „Aussichtslos,“ sagte sie, „im wahrsten Sinne des Wortes. Da diese Person nicht auf einer Erhöhung oder Mauer steht, kann sie nichts außerhalb der Mauern sehen, nichts über die Mauern hinaus, eine eingeschränkte Sicht, und auch eine beschränkte Sicht.“ „Ja,“ sagte er, „sie ist gefangen und sieht nichts außerhalb der hohen Mauer und sie ist allein. Es gibt überhaupt keinen Sinn für diese Figur, sie könnte ebenso nicht sein. Man könnte auch sagen sie stört die sonst einheitliche, ruhige Wüstenfläche.“ „Uff, ja,“ sagte sie, „alles andere, alles Leben, alles Lebendige stört immer die saubere, ruhige, leblose Fläche.“ „Was soll die Mauer dann und wozu die Fläche?“ sagte er irgendwie ärgerlich, „warum will es bloß immer?“ „ Also mal abgesehen von all den interessanten Fragen, ist dieses Gestaltete ein Ausdruck, ein Bild, ein Wort, das Wort Aussichtslos zum Beispiel und mehr. Es ist ein Zustand von Sinnverlassenheit und Gefangenschaft, und der Kraft der Beschränkung. Die Mauer ist tot, die Tischebene ist Tod, und die graue Person gleicht sich der Mauer und der Ebene an, also dem Sterben, gleicht sich den Schranken an und ist Beschränkung?“ Er hob seinen Arm um das Ganze vom Tisch zu fegen, sie stoppte seinen Arm, aber packte ihn nicht, sie hielt ihren Arm nur kurz dagegen, wie Wind der anders ins Segel fährt. Auch dieses -Nicht-gepackt-werden war ihm fremd, was ist das, keine Schraubzwingen? „Halt, warte kurz, noch einen Sache,“ sie sagte nicht, zerstör es nicht, das darfst du nicht, sie sagte nur: „kurz noch eine Frage, hat er einen roten Fleck? Gerade habe ich es auf seinem T-shirt gesehen, lass mich bitte nochmal kurz sehen.“ Sie hob die Figur auf ihre Hand und beide schauten auf die graue Figur. „Der rote Fleck könnte ein Funken Leben sein,“ sagte sie, „es ist nicht zu spät,“ Er ließ seine Arme sinken. „Was meinen sie?“ „Wenn ich mir die Figur ansehe, ist der Fleck auf ihrem Hemd genauso einsam, wie die Figur in Bezug auf das Viereck. Gibt es keine Idee diesen Fleck auf seinem Hemd zu integrieren?“ fragte sie, und holte ihre Stifte. Er nahm den roten Stift. „Darf ich?“ „Ja,“ sagte sie. Er tippte mit dem Stift auf den roten Fleck und zog von dort aus Kreise, wie ein Stein, der ins Wasser fällt Kreise zieht. Er malte den größten Kreis über die Füße, die Hände und den Schädel der Person. Sie seufzte erleichtert. Er ließ die Figur fallen in die Mitte des Mauervierecks. Jetzt lag sie dort wie ein Fleck. „Es könnte auch ein Rätsel sein,“ sagte die Frau, „wie wäre die Frage dann?“ „Die Frage ist, wie kommt die Figur aus dieser Situation? Oder wie stürzt die Mauer ein, oder was muß passieren damit eine neue Situation kommt?“ „Was möchtest du?“ Er sagte nichts. „Das Rätsel lösen oder beenden?“ „Lösen wäre besser“, sagte er. „Entknoten also, statt durchschneiden?“ „Naja“, sagte er, „wenn man entknoten kann, bleibt die Schnur unversehrt und man hätte wieder eine lange Schnur. Ich möchte eine Lösung finden,“ sagte er auf einmal, „wie die Figur hinaus kommt, ohne dass die Mauer oder die Situation zerstört wird.“ „Veränderung und Lösung klingt gut, finde ich.“ Schließlich nahm er einen Stoffvogel, der in der Stofftierkiste lag und holte die graue Person mit dem Vogel aus dem Gehege. „Wunderbar“, sagte sie. „Jetzt brauchen wir die Mauer erstmal nicht mehr.“ Er schob alle Steine auf einen Haufen. „Hat die Mauer nur in Bezug auf die graue Person einen Sinn? Oh, aus der Begrenzung ist eine Erhöhung geworden. Vorhin war sie Sicht einschränkend, jetzt kann sie sichterweiternd sein, Übersicht verschaffend, und ist doch aus der selben Substanz.“ . „Also bestimmt die Beziehung zu etwas erst unseren Sinn?“ überlegte er.

Es klopfte an der Tür. „Bitte nehmen sie noch ein paar Minüttchen im Wartezimmer Platz, ich hole sie gleich dort ab.“ Die Zeit der Stunde war schon vorbei und der nächste hatte geklopft. „Komm noch mal kurz her, ich wollte mir nochmal das vom letzten mal auf dem Tablett an sehen, mit dir!“ „Eigentlich wollte ich sie dazu auch noch einiges Fragen.“ „Sehr gerne, bitte ja,“ sagte sie, „kannst du dir bitte, bitte die Fragen merken, oder besser schreib sie dir auf. Kannst du das machen? Ich freu mich so auf deine Fragen und ich will sie nicht verpassen. Ich weiß nur nicht mit dem Merken, oft denken wir, das ist so wichtig, ein so guter Gedanke, den werde ich nie vergessen und kaum sind ein paar Stunden vorbei, kann man nicht verstehen, das man ihn nicht mehr wieder findet. Deshalb habe ich so ein Heftchen immer bei mir und schreibe gleich auf, was ich gedacht habe.“. Sie zeigte ihm ihr kleines Heftchen. Zack riss sie eine Seite heraus und gab sie ihm. „Wenn dir die Fragen noch einfallen, schreib sie kurz auf den Zettel. Das wird mich freuen“, sagte sie. „Unsere Zeit für heute ist ja schon abgelaufen. Wie das klingt, die Zeit mit fitten Turnschuhen, wie sie da läuft, ihre Sohlen platt rennt, während wir auf Stühlen saßen. Eine schöne Woche dir, Hans-Peter! Bis nächstes mal,“ sie reichte ihm die Hand. Als wäre er ein Kollege, mußte er denken. „Auf Wiedersehen,“ sagte er und ging. Wegen ihm hatte sie jemand warten lassen, auch noch jemand Erwachsenen, er hatte gesehen, dass es ein Herr war, der durch den Türspalt herein geguckt hatte. Und, sie hatte ihm gedankt in der Stunde, und sie hatte sich gefreut. Er runzelte die Stirn und kniff den Mund ein bißchen zusammen, damit ihm niemand das Lächeln klauen konnte, dass sich darauf gebildet hatte. Er ging die Straße hinunter und hörte sich selbst innerlich nochmal -Auf Wiedersehen- sagen, das sagte er sonst nie. Es war ihm zu lang und zu blöd und außerdem nicht wahr. Bei ihr aber, war es die Wahrheit. Er wollte sie wiedersehen. „Ich will sie wiedersehen, das ist die Wahrheit.“ Er schaute fest nach unten, wieder um das Lächeln nicht in Gefahr zu bringen. „Hallo!“ rief eine Stimme von der anderen Seite. Und da sah er die Schöne. „Hallo!“ winkte er. „Ich war krank, aber morgen bin ich wieder um 7.30 Uhr an der Ecke, wenn du dann auch zur Schule gehst?“ Weiter sprach sie nicht. „Ja, ich werde dann an der Ecke sein, dann können wir zusammen gehen.“ „Bis Morgen!“ rief sie und lief schnell in die andere Richtung weiter. „Auf Wiedersehen,“ flüsterte er leise. Eine schöne Woche, hatte die Frau ihm gewünscht, und gleich war es schon schön geworden, dachte er.„Sie redet mich immer mit Namen an in der Stunde,“ dachte er weiter, „Hans-Peter“, er hörte es in seinem Ohr und spürte ein Aufrichten. Etwas richtete sich in ihm auf. „ Ich, Hans-Peter, auf den sie sich freut, angeblich, sie sagt es,“ sagte er laut zu seinen Schuhen. Er sah weiterhin auf den Weg hinunter, als fürchte er sich, dass etwas von außen oben, diese Erkenntnis zerstören oder lächerlich machen könnte. „Sie bittet mich um Entschuldigung, und ich kann ihr Entschuldigung geben. Ich habe ihr etwas zu geben, Hm? Ich kann ihr Fragen schenken? Eine Frage ist also etwas, das man schenkt?“ Diesem Gedanken schaute er lange nach. Er hing vor ihm, wie etwas Nie-zuvor- Gedachtes. Bis jetzt hatte er gewußt, das Fragen nerven, das sie anderen oft lästig sind. Ihm selbst waren sie auch meistens anstrengend und bedrohlich. Sie hagelten auf ihn nieder, und er stammelte verzweifelt irgendwelche hingenuschelten Antworten. Nur eine Frage war schön gewesen, fiel Ihm ein, ja sie war ein Geschenk, dachte er, das war, als die Schöne ihn gefragt hatte, „wie heißt du?“. Diese Frau interessierte sich für ihn und seine Welt, ja sie sagte, dass sie ihre Welt durch die Begegnung mit ihm bereichert fühlte, obwohl er ihr doch fremd war und ihr egal hätte sein können. Sie hatte einen anderen, wegen diesem ihm, Hans Peter, warten lassen, nur um ihm einen Abschied zu schenken? Und dieser Hans-Peter, also er, hatte freundlich -Auf Wiedersehen- gesagt und es wahrhaftig gemeint. Dieser Hans-Peter, aus dieser Situation mit diesem Verhalten war in ihm, war er. Zuhause angekommen schaute er sich plötzlich lange im Spiegel an, „ich?“ In der Weise, wie er sich jetzt anschaute, war er sich ganz unvertraut und neu. Er entsprach nicht mehr seiner verbitterten Vorstellung. Im letzten Jahr hatte er nur flüchtig vor dem Spiegel seine Haare schulparat gerupft. Heute sah er mit Interesse in den Spiegel. Er zog den abgerissenen Zettel aus seiner Tasche. Sie hat nun in ihrem Buch eine abgerissene Stelle. Das Heft sieht nun angerissen aus, minderwertig. Und sie wußte, dass er den Zettel hatte. Und er würde es auch nicht vergessen. Um ihn selbst herum empfand er auf einmal mehr Raum, mehr Platz,- einen Raum Leben-.

Die Woche zeigte sich auf schöne Weise, denn er traf die Schöne auf dem Hinweg zur Schule und auf dem Rückweg, und dafür lohnte sich ein Tag. Genau einen Tag bevor er wieder Stunde gehabt hätte, stand seine Mutter schon an der Haustür, als er zurück aus der Schule kam. „Du hast Post bekommen? Wie kann das passieren?“ Sie gab ihm einen dickeren Umschlag. „Tatsächlich an Dich, Was kann das sein?“ Er nahm den Brief und eilte auf sein Zimmer. „Sag mir, was los ist!“ rief seine Mutter hinterher, „ nicht dass du wieder schlimme Sachen gemacht hast oder Dummes bestellt?“ Er schloß die Tür und öffnete den Umschlag. Ein kleines Heft, ein ähnliches, wie die Frau hatte, lag darin und ein schöner Minikugelschreiber. Wie schön der ist, wie schick auch. Und dann war da noch ein Brief, handgeschrieben. Seine Hände zitterten vor Aufregung, er hatte noch nie etwas ähnliches erhalten.

„Lieber Hans Peter,
leider ist etwas passiert, ich kann es dir jetzt nicht im einzelnen erklären, und ich muß alle Stunden für den nächsten Monat absagen. Es fällt mir schwer, gerade jetzt eine so lange Unterbrechung machen zu müssen. Und es tut mir auch leid, vor allem in meiner Hoffnung zu denken, dass du dich vielleicht freust auf die nächste Stunde, wie ich? Weil wir eine gute Arbeit machen. Aus meiner Sicht war es eine sehr interessante Zusammenarbeit. Ich vertraue und hoffe, dass du die Zeit gut überbrücken wirst und wir dann weiter machen.Vielleicht schreibst du ja ein paar Dinge, Erfahrungen, Erlebnisse, Gedanke, Einfälle auf. Einfalle klingt gut, also- hallo -wenn etwas in dich hinein fällt, sofort die Daten aufnehmen, wie an einer Grenze, Namen, Alter, Herkunft, Größe, Farbe, Lieblingsessen…. oder was du sonst so findest, wie ein Detektiv, was du suchst, verfolgst, feststellst, dich fragst, bemerkt hast. Oh ja, bitte! Vielleicht mache ich es auch, vor allem einmal in Bezug auf Dich, was ich dich zu einer Begebenheit fragen möchte, was du wohl zu einem Sachverhalt meinst, für mich klingt das spannend. Ich hoffe für Dich auch. Einfall, ich muß schon über das Wort schmunzeln, nachher sagst du, du liefest durch den Regen, hieltest deinen offenen Mund zum Himmel und ein Regentropfen wäre in dich hinein gefallen. Der Einfall Regentropfen. Ich muß gerade denken, was, wenn man Gedanken oder Erkenntnisse nur auffangen müßte, weil sie in einen Hineinfallen, das hieße man muß vor allem offene Hände haben, einen offenen Kopf. Was denkst du dazu? Die beiden Male, die wir schon zusammengearbeitet haben, haben mich sehr erfreut und mir viele Gedanken geschenkt. Im Nachhinein betrachtete fällt mir gerade auf, dass du sehr schnell bist und schnell erkennst, und manches sogar in Worten benennen kannst.
Am Anfang war das Wort, heißt es. Darüber muß ich oft nachdenken. Mir ist jedenfalls aufgefallen, das alles, was wir sehen, wahrnehmen und erkennen gleichzeitig ist mit dem Benennen,—- Platte, vier Beine,Tisch,——ah… Tisch! Und mit den Gefühlen und dem Unsichtbaren kann ich es so auch nachvollziehen. Jedenfalls habe ich gedacht, dass Dich dieser Brief interessieren könnte. Ich erhielt ihn vor fünfunddreizig Jahren erhielt. Seitdem habe ich ihn immer auf meinem Schreibtisch. Ich habe ihn dir kopiert und finde, es ist ein schöner Gedanke, du hast ihn auch. –
Er hörte seine Mutter rufen, „Und?“ „Alles in Ordnung. Es war nur von den Stunden, wo ich hin geh, diesen Monat gibt es keine Termine, ich habe deshalb ein paar Aufgaben bekommen für die Zeit“ „ Aha, gut, dann ein Glück, verlier sie nicht und mach sie auch. Vier Wochen keine Termine, oh man, das schon wieder,“ aber sie war beruhigt und ging ins Wohnzimmer. Er steckte Zettel und das Heft und den Kugelschreiber sorgfältig in die zweite, versteckte Brusttasche von seinem Parker.Dann holte er den kopierten Brief und legte ihn auf seinen Schreibtisch und las. Dort, wo wohl ihr Name gestanden hatte, sie hatte ihn sorgfältig überklebt, stand jetzt mit schöner Tinte lieber Hans-Peter! Die Schrift des Briefes schien über das Blatt zu fließen. Die Tinte hatte eine blaue, vielfältige Spur gezogen, die die Augen zu einer Wanderung einluden auf Wege nach Innen. Die Sonne ging orangerot in seinem Fenster unter und warf ein warmes Licht auf den Brief. Alles war still, nur die Vögel zwitscherten laut vor seinem Fenster.

Lieber Hans Peter!
Nun, wo sich Fernen, (hier hatte sie eine Sprechblase über die Zeile geschrieben: wegen der Stunden müßte es ja nur Unterbrechung heißen), zwischen uns schieben, tröstet es mich, Dich weiterhin in der Gestalt eines Briefes zu begleiten. Diese geschriebenen Worte an Dich können bei dir bleiben, so lange du sie bei dir haben möchtest. Ich wünsche Dir von Herzen, dass du das lebst, was du ersehnst. Es gibt manchmal Gedanken, die sehr hilfreich sein können um sich selbst nicht zu verlieren, um sich selbst immer wieder zu finden, und deshalb sehr viel schenken zu können. Ich wünsche dir eine schöne Wachheit und einen Weg voller Umsetzungen, die Kraft zur Freiheit und eine Fülle an Zuversicht. Die Zeit, die wir hatten, wird immer bleiben, sie ist nicht zerstörbar. Ich danke sehr für die Begegnung und Beziehung mit dir,

Alles liebe Dir!                Dein,
(hier war der Name wieder überklebt mit einem Aufkleber, auf dem der Planet Erde abgebildet war. Mit einem Leuchtstift hatte Sie daneben ein lächelndes Schweinchen gemalt, das mit einem Glücksklee winkte.) Darunter begann ein Text. Heißt lebendig sein Versuchen, heißt leben suchen? Sich auf zu machen zu suchen, könnte auch leben heißen. Wissen selbst ist immer auf dem Weg. Es bleibt immer Erkenntnis einer bestimmten Stelle eines weiterführenden Weges. Es wächst und erweitert sich ständig. Es zeichnet sich darin aus, dass alle Schritte auf dem Weg, zu diesem Wissen hin, nach vollziehbar schlüssige Folgen sind. Fragen ist eine zu achtende Weise des Suchens. Und führt zur tuenden Gestaltung und deren Spur. Wissen ist immer ein Zweites, und Erlangen tut es der, der sucht. Ohne die Suche ist kein Wissen, es ist das Gefundene. Der Weg des Suchens hat nachvollziehbare, schlüssige Folgen, klare Strukturen. Auf dem Weg der Suche ist unglaublich viel mehr zu finden, als man suchte. Öffnen wir uns dem Leben, der Welt in ehrlicher Weise, so fühlen wir eine Blindheit, denn wenig ist es, was wir erkennen, wenige Zusammenhänge übersehen wir. Bildet sich in uns eine Erkennens-sehnsucht, so fühlen wir schnell die Grenzen unseres Kopfes, unseres Herzens, unseres Körpers, und in der von uns angenommenen, erkannten Blindheit und Beschränktheit, den Mut auf zu bringen seinen Weg zu gehen, möchte ich am liebsten lieben nennen. Wir finden uns dauernd vor Entscheidungen, und müssen solche Fällen aus Ungewissem ins Ungewisse, Blind ins Blinde leben. Suchend sein, und wir können suchen mit Worten, mit Farben, mit Klängen, mit etwas, mit dessen Kraft wie sehend werden. Im Gestalten, Benennen, können Teilstrecken von Wissen erlangen. Farben, Worte, Klänge, Zeichen sind auch Möglichkeiten erkennen zu geben und uns alles Werden verstehbar zu zeigen. Auf diese Weise gestalten wir es selbst mit. Wir wirken in die Welt, wirken auf andere, schenken anderen sich selbst durch unser Antworten. Wenn ich nur wach bleibe zu suchen. Das Aufhören zu suchen ist ein mir schlimm erscheinendes einschlafen. Diese giftige Müdigkeit macht mich kränkeln. Nicht-mehr-suchen und fragen verlangt nach gesetzten Strukturen, nach so-ist-es- richtig, das ist zu tun und das nicht. Als willenloser, gehorsamer Befehlsempfänger werden unsere Entscheidungen, Erkenntnisse nicht gebraucht, wir dürfen und sollen schlafen und können nichts dafür, und nichts daran ändern. Schlafend halten wir uns fest an stehen bleibendem Wissen, das einzementiert endgültig sein soll. Eine vorgegaukelte Allwissenheit nimmt uns das Suchen und damit alle Lebendigkeit und Wachheit. Diejenigen, die es dann lehren und vorsetzen haben den verzweifelten Wunsch gesehen zu werden. Sie empfinden Ihr Sein in ihrer Macht über andere und in deren Unterwürfigkeit. Das Abgeben unserer Wachheit unseres Entscheidungswillens, unseres Suchens, also unser Einschlafen ermöglicht es Ihnen. Sie wiederum verlangen einen hohen Preis für das Für-uns-wissen und das Uns-führend bestimmen. Knechtung und die Abarbeitung ihrer eigenen einstigen Peinigungen ist zum Beispiel ein Preis. Auch legen sie uns Einschläferndes nahe, und locken und befehlen uns in üble Welt- und Menschen- verachtende und verbrecherische rücksichtslose Handlungsweisen. Die Welt der Gemeinsamkeit findet sich wieder in einer trennenden, gegeneinander Haltung und Ausgrenzung. Ist es so weit gekommen haben die Suchenden keine Duldung mehr, denn sie verkörpern das Wache Lebendige, dass das Leblos gewordene, feststehende Gefüge seiner Natur nach bedroht. Ich wünsche mir und dir so sehr unglaublich viel Zuversicht, dass wir nicht aufhören zu suchen, zu entscheiden wagen und weiter zu suchen. Das Meiste, was wir nicht nicht suchen bleibt im Verborgenen. Je nach dem, fügt es sein Tun, Denken, sein Sein über unser Leben, lebt uns, weil wir es nicht erkannt haben. (Sie weinten fürchterlich und klagten, da wir sie nicht erkannten. Wir erkannten nicht das Leben in ihnen, erkannten nicht den Menschen in ihnen. Wir sahen Sie nicht. Wir hatten Schranken, Türen und Tode gesetzt.) Das, was wir unerkannt, unbenannt fortschieben, wird um so machtvoller hervorbrechen und über uns regieren. Wir selbst erleben es dann im Außen, über andere Dinge gestülpt, wieder. Dann sehen wir in unserem Gegenüber nicht einen neu zu entdeckenden Menschen, sondern das von uns Unerkannte, verdrängte in uns, den Feind. Seine Silhouette bildet für das Fortgeschobene eine Form, in dass dieser Feind hinein springt und als unser Urpeiniger erscheint, den wir dann mit zunehmender Verzweiflung zu beseitigen suchen. So ist plötzlich der Geliebte, das Kind, der Anvertraute, nicht mehr zu erkennen, als was er ist, sondern als erniedrigender Feind. Wir bekämpfen, bekriegen ihn, schlagen los, rächen uns für die von uns ertragene Pein, selbst nicht gesehen worden zu sein. Wenn wir den inneren Wald außen sehen, können wir ihn fassen und unser Innen verstehen und nach außen leben, dann beginnt unsere Freiheit zu gestalten mit zu wirken und zu bewirken. Ich erfreue mich sehr an der Kraft des jungen Menschen, der Mut Entscheidung oftmals ins Blinde und aus dem Blinden heraus zu fällen gewillt ist, in der Hoffnung auf Zukunft. Die so leidenschaftliche Suche, nach Sinn und Wahrheit und Aufgabe erblüht in ihnen. Wie schade nur, wenn die schon Vorausgehenden, dies nicht wahrnehmend achten und pflegend nähren. Wie sehr schade auch, wenn die Verantwortungstragenden die Fähigkeit miteinander zu sprechen, mit einander zu suchen nicht weiter schenken. Auch das Sprechen mit sich selbst, hat einen wichtigen und hilfreichen Wert für unsere Erkenntnisse und verleiht den Entscheidungen Gestalt. Das Wort verleihen an dieser Stelle gefällt mir so sehr, da es an das Werden erinnert, an das fließend Vorübergehende, eine kurze Gestaltung geben, um dann darüber hinaus zu wachsen in neue größere Geschehen. Jeder ist es wert, dass man mit ihm spricht, der Entzug des Gesprächs, ist im Grunde Lebens bedrohend. Wie sehr ich mir wünsche, dass die Kinder und Jugendlichen, wie du, so weit wie möglich ihre Kräfte erkennen und das Wachsein erhalten, es nicht aufgeben. Ich hoffe so sehr, dass sie das, was sie nicht bekommen selbst bauen und es in die Welt bringen. Dass sie, obwohl sie vielleicht niemals Liebe erfahren haben, dennoch, ein kleines inneres Flämmchen in sich hüten und nähren und zur Entfaltung bringen um selbst zu lieben. Wir brauchen junge Menschen, die den Mut haben zu sehen, die Mut haben Türen zu öffnen, die wieder groß werden wollen und etwas in die Welt geben wollen, obwohl sie in Wüsten und unter Schuttbergen vielleicht verlassen aufwachsen, die an ihr Leben glauben, es beschützen und hüten und leben wollen, die den Wert des Lebens bezeugen wider alle Besserwisser, alle Ausgrenzung und über alle Mauern hinüber durch alle zäune hindurch.
Die jungen Menschen, die den anderen suchen und erkennen wollen und wertschätzen, die ihre Bezogenheit mit allem, zu allem leben wollen. Jugendliche, die es schön finden lebenslang zu suchen, die den Mut haben ins Ungewisse zu lieben.
Die Zeit, die uns unsere Begegnung und Beziehung geschenkt hat, ist mir so sehr wertvoll. Ich bin erfüllt mit tiefem Dank! Wenn es nur geschieht, dass wir wach bleiben und es uns möglich ist andere zu bestärken auf ihrer Suche zum Wach-sein zu ermutigen. Du suchst. Und durch unsere Begegnung weiß ich, dass ich auf der Suche bin zu lieben, selbst zu lieben. Ein ganzes Leben an Zeit ist mir dafür geschenkt. Jede Frage ist einen neue Bestätigung der Hoffnung. Mit meinen Zeilen versuche ich dich zu begleiten. Mit diesem Brief male ich in Worten ein Bild. Ich hoffe, wenn du darauf schaust, kannst du erkennen, was du mich in meinem Leben hast finden lassen. Jeder Einzelne ist die Hoffnung, und ich hab sie in dir gesehen. Darunter war ein Bär gezeichnet, der neben einem Hund aufrecht steht. Was ist lieben? Stand mit Bleistift, wie eine Sprechblase neben ihnen. Er hatte den Eindruck, die beiden hätten ihn gefragt, denn sie schienen ihm direkt in die Augen zu blicken.
Er faltete den Brief sorgfältig zusammen und schob ihn unter die Matte, die auf seinem Schreibtisch lag. Um den Tisch vor seinem Gekritzel zu schützen, hatten seine Eltern diese große Unterlage gekauft und aufgeklebt. An einer Seite aber, hatte sich die Klebe ein kleines Stück gelöst. Hier schob er den Brief hinein und legte Bücher darauf. Hier lag er geschützt und auf seinem Schreibtisch. Er ging zum Fenster und sah hinaus. Ein klarer tiefblauer Abendhimmel wölbte sich über dem Horizont. Ein einzelner Punkt leuchtete weiß. Ein Stern, sagte er. Welcher Stern ist es? „Eine Frage beweist, das ein Hoffen ist. Ich hoffe?“ fragte er sich laut. Wieder lag ein ganz junges, zartes, vorsichtiges Lächeln auf seinen Lippen. „Ich werde deinen Namen suchen,“ flüsterte er und atmete tief. Er wußte nicht, wann er jemals einen so tiefen Atemzug erfahren hatte. Er fühlte die Luft, wie einen Strom von weit her, der durch ihn hinzog, ihn ausfüllte um weiter zu ziehen, in eine unendliche Weite. ——Leben ———
ich will es wagen                                                                  Leben hilf mir leben                                                                  ich will es wagen

.                                                                                                    und suchen