Weiße Weihnacht
Dicke Schneewolken zogen über die Stadt, alles hüllte sich in weiß, sogar auf dem breiten Fensterbrett seines Bürofensters lag dicker Schnee.
Was eigentlich konnte an Weihnachten schön sein?
Er saß an seinem Schreibtisch, mehrere Papierhäufchen stapelten sich, draußen fiel sogar Schnee.
Ist ja eigentlich schön, dachte er: ja, schön! Man saß in einer kleinen Dose und wenn sie geschüttelt wurde, flogen die weißen Flocken um einen herum.
Er hätte sich schütteln können, ja er hätte sich rütteln sollen, bevor ihn dieser Zustand hätte ereilen können. Er hätte frühzeitig sich dann vielleicht erinnert, dass es in seinem Leben schöne spaßige Dinge unzweifelhaft gab, dass er Kraft hatte und ihm oft das ein oder andere sogar Segensreiche einfiel, dass es weiterging. Ja, weiter ging es jetzt auch, aber ungerüttelt, wie verdeckt. Auch der vor dem Fenster tanzende Schnee hatte nur etwas geradezu Monotones. Der Schnee würde alles stiller machen und einfach alles einweißen.
Die Papierstapel beseitigen, wozu?, dachte er kurz, sie füllen sich unablässig wieder auf. „Wenn sie weg sind, ist dir besser. Wenn du die Schulaufgaben gemacht, hast ist dir besser…“, er hörte diese Worte von früher deutlich, fühlte diesen inneren Weigerungszwang aufkommen, wusste es half nichts, sagte vor sich hin, „wenn du, wenn du“, bezwang sich dann und bearbeitet die Papierstapel.
Nach ein paar Stunden war er tatsächlich unten angekommen. Er fühlte sich besser. Sicher, wenn du dann…, sicher der freie Raum, freier Raum tut immer ein bisschen gut, man spürt einen Moment keine Forderungen.
Er sah zum Fenster hinaus. Es schneite leicht.
Weihnachten, es würde Weihnachten sein, wie immer, jedes Jahr. Es kam ihm nur so vor, als käme es schneller und verginge schneller. Es war ein hektisches Auf- und Abbauen. Für wen?, dachte er, warum eigentlich und warum auch nicht, was sprach dagegen? Es war schön, gestaltete die Zeit des Winters abwechslungsreicher, man hatte Stress und Erwartungen und wußte vor allem ziemlich genau, was sein muss und wie, und alle machten es.
„Weihnachten“, dachte er.
Er stand auf, zog sich warm an – die Mütze tief ins Gesicht – und beschloss einfach ein bisschen durch die Straßen zu laufen, vielleicht würde er sich aufmachen und noch ein paar Besorgungen erledigen. Ein bisschen aus der Bude kann nix schaden, sagte er sich und trat vor die Tür.
Es war kalt, wirklich kalt, er zog den Schal fester, steckte die Hände in die Tasche und bemerkte seine leicht gebeugte Haltung gar nicht. Der Schnee knarzte unter seinen Schuhen. Wirklich, alles war etwas leiser, wie gedämpft und heller, dachte er. Er blieb kurz stehen und schaute über den Platz, die Bäume waren über und über weiß. Eigentlich schön, dachte er, eigentlich wirklich schön. Etwas ermuntert entschloss er sich nun doch in die Einkaufstraße zu gehen und ein paar Besorgungen zu machen. Ihm fehlte noch Papier, weißes Papier für den Schreibtisch, dachte er verärgert. Aber er brauchte vor allem noch ein paar kleine Geschenke, überall hatten sie besprochen sich nichts zu schenken. Weil man hatte ja alles, alles nahm nur Platz ein, war Staubfänger oder…ach, was… . Wenn man aber wirklich gar nichts hatte, würde es doch schlimm sein, keiner würde etwas sagen. Aber man fühlte, dass es doch zu trocken war für einige.
Ihm fiel eine Freundin ein mit der er vor Jahren zusammen gewesen war. Ja, das war schön gewesen, sie hatten sich bei jeder Gelegenheit aus dem Blauen etwas geschenkt und einmal hatte es sich ergeben, dass sie beide Weihnachten nichts hatten, sie hatten gelacht und einen lustigen Abend verbracht. So ist alles nicht mehr, dachte er.
Es schneite stärker, die Leichtigkeit, dachte er, Leichtigkeit ist etwas anderes als Flüchtigkeit. In dieser Beziehung damals, da hatte er noch eine Leichtigkeit gehabt, aber sie waren ja auch jung gewesen. Er hatte begonnen zu studieren, fühlte sich fit, sah gut aus, alles ging ihm leicht von der Hand, und mit relativ lässigem Aufwand gelang ihm das meiste sehr gut, die Noten flogen ihm geradezu zu. Auch nach seinem sehr guten Examen dauerte es nicht lange, bis er in eine sehr hohe berufliche Position hineingerutscht war. Er fand auch, er habe es verdient, in gewisser Weise erarbeitet. Mit Fleiß und Konsequenz, es stand ihm sozusagen zu. Man musste sich halt „am Riemen reißen“, wie er zu sagen pflegte und dann ging es schon. Auch hatte er schnell eine anständige Familie gegründet. Heute Abend würden sie zu Hause den Weihnachtsbaum schmücken. Alles wäre gut, wie es sein muss. Die schon lange geregelten Geschenke für die Kinder waren verpackt, und auch die Kinder hatten die obligatorischen Briefe für die Großeltern rechtzeitig geschrieben. Aber er fühlte gar keine Leichtigkeit mehr und etwas wie Freude musste er suchen. Diese Leichtigkeit, die er früher erlebt hatte, war verschwunden, es schien sich ihm geradezu zäh zu ziehen. Auf allem, was er tat lag eine gelangweilte Schwere. Weihnachten vergeht, der Schnee vergeht, ihm wurde leichter. War es deshalb leicht, weil nichts beständig war? Aber er hatte Beständigkeit geschaffen: Werte, ein Haus, Beruf, Versicherungen, Absicherungen. Nichts war flüchtig. Ein kleiner Windwirbel bildete sich vor seinen Füßen, Leichtigkeit ist etwas anderes als Flüchtigkeit, dachte er wieder.
War er geflohen in ein Wie-es-sein-muss, gewisser Weise vor sich selbst? Er war einfach mitgelaufen mit der einfachen Linie und wußte nicht einmal, ob er sie gewählt hatte. Es war so, es gehörte sich so und es ging ja gut. Er erntete Lob, Anerkennung, Achtung und erhielt Macht, viel Macht, musste er denken. Er schüttelte den Schnee von seinem Mantel und dachte: ach was, du hast eine vorweihnachtliche Schwermut. Was soll’s, sieh dich an!
Er blieb vor einem Schaufenster stehen. Ja, er sah gut aus. Der schicke Designermantel stand ihm gut. Die alte Ledertasche, flair umwoben, die neuen Leder Schuhe – er konnte sich sehen lassen. Er war wer! Auf jeden Fall! Man grüßte ihn auch des öfteren im Vorbeigehen.
Er setzte sich kurz in ein Kaffee, trank einen Espresso, das eine Bein lässig über das andere geschlagen, so dass die Marke seiner Socken zu lesen war. Er rauchte nicht. Doch heute würde er sich einen Kognak gönnen, einen alleine hier. Er flirtete mit der Frau hinter dem Tresen und ging weiter, mehr flüchtig als leicht.
Schneeflocken waren leicht. Flüchtig bedeutet immer, dass man vor etwas floh, fliehen musste.
Manchmal schlief er schlecht. Die ruhigen Abende allein mit seiner Frau liebte er nicht, es könnte zu eng, zu stressig, in gewisser Weise zu nah, zu Fragen aufwerfend werden. Er sah immer zu, dass sie etwas zu unternehmen hatten mit Freunden. Sogar in den Ferien achtete er stets darauf, dass diese sich um einen Kongress rankten oder das Freunde mit fuhren. Geflohen, geflohen vor vielen Warums, das war er. Inzwischen beantwortete er alle Warums klar, Die sind arm, weil sie sich nicht anstrengen, weil sie sich nicht kümmern, weil sie aus falschen Familien stammen, weil sie es so wollen oder nicht anders verdienen, weil sie keine Lust haben zu arbeiten, sich eben nicht „am Riemen reißen“… . Schon war er frei, Fragen nach dem Sinn, dem Warum gehörten in die Kinderzeit und er, er war erwachsen. Es gab nichts, wovor er hätte fliehen müssen, er war im Recht und sprach Recht, bestimmte wie es zu sein hatte.
Warum aber dann jetzt dieser Zustand, wie als wäre etwas abwesend. Er war Vater, Ehemann und mächtiger Beamter. Aber er fand sich darin nicht mehr. Von Zeit zu Zeit trieb ihn eine Unruhe, die ihn beängstigte. Man erklärte ihm: „Du arbeitest zu viel!“, aber es war etwas anderes, das ahnte er. Auch seine Frau, liebte er sie? Natürlich, natürlich, alles ging gut. Aber auch da erlebte er sich manchmal fast maschinell. So war es, so ging es, das tat er.
Wann eigentlich hatte er irgendeine Entscheidung von sich aus gefällt? Er war in der Mühle, es ging so, man hatte dies und das bestimmt, es wurde so gemacht. Wenn es nicht gleich passte, guckte man einfach weg. Er hatte Berechtigungen zu schreiben, Genehmigungen, Übergaben, Kredite zu vergeben und Papiere einzutreiben und zu vergeben, an denen hingen Existenzen, Leben oder mehr in vielerlei Weise. Aber daran konnte man nicht richtig denken, nicht immer, es war oft auch nicht gut. Man wollte sich nicht beeinflussen lassen oder man wurde handlungsunfähig. Aber wozu und warum? Er wußte nicht mal, was er selbst eigentlich darin tat, wo er überhaupt war, wer, was eigentlich wollte er?
Zu was stand er in Beziehung?
Manchmal verschob man etwas, klar, machte es passend, bewilligte etwas, wenn ein guter Bekannter fragte, wenn es einen persönlichen Vorteil brachte, ja man tat dies oder das vielleicht beiseite. Wie sollte es auch anders gehen? Nein, ein großes Verbrechen wollte man nicht begehen, grundsätzlich machte man es brav und gut.
Wann hatte er eine Entscheidung aus sich gefällt? Etwas getan, weil er es dachte, weil es sein Leben war? War es sein Leben? Wo war er überhaupt noch? Er dachte: Man ist die Summe seiner Handlungen, war er dann nur das? Konnte das sein? Wo waren seine nicht ferngesteuerten Handlungen?
Auch dieses Weihnachten zeigte es ihm: alles war wie es sein muss, nur ohne ihn. Er selbst war eine Hülle, von Gleichgültigkeit umwoben. So nicht, so nicht! dachte er.
Dann lief er durch die dunkler werdenden Straßen. Der Schnee fiel, an der Kreuzung blieb er stehen und blickte kurz zurück. Die leichte Spur, die seine Schritte hinterlassen hatten, hatte für ihn auf einmal etwas zutiefst Verlorenes. Verwischt, einfach in den Boden geschmolzen, besser mit dem Boden verschmolzen, wie alles von ihm. Alles war untergegangen in dem breiten Brei, ja, vielleicht auch der schützenden Allgemeinheit.
Gab es etwas um das er kämpfte? Neulich war er mit seinen Kollegen im Nachtclub. Es bestärkte ihn schon, dass er gut ankam. Dass man die Dinge und Frauen und Geschehnisse so kühl nahm, was schon mit Gefühl, und, und, er war verheiratet, ja, aber so’n Ausflug, das gehörte doch dazu, war ja eigentlich nichts, man machte es so, egal.
Er lief weiter. Eine Mutter schleifte ein Kind an der Hand, das fröhlich in den Schnee trat und immer zurück schaute nach seinen Spuren. „Komm jetzt, wir müssen uns beeilen“. Das Kind befreite sich kurz von der Hand der Mutter und hüpfte mit beiden Füßen in die Schneedecke, trat zurück, sah seine Spur an und rief: „ich bin da!“ Dann ging es brav an der Hand weiter.
Er bog in die Straße, wo sein Auto parkte und fühlte sich sehr schlecht gelaunt. „Ich bin eigentlich gar nicht mehr da.“
Plötzlich erinnerte er sich an eine Anfrage, ein Vorhaben damals, er hatte es nicht so ernst genommen, es beiseite gelegt. Oder doch, er hatte es ernst genommen, es hatte ihn irgendwie berührt, was ihn schon geärgert hatte. Es hatte an seinen festen Einteilungen gerüttelt, es hätte seine Lebensplanung in Schwanken bringen können. Und auch hatte er etwas wie Neid empfunden auf diese Jugendlichkeit und diese freudige Frische des jungen Mannes, der sein Leben, was offensichtlich nicht glatt verlaufen war, doch so mutig in die Hand nahm und sein klares System ins Wanken hätte bringen können. Er hätte es wagen müssen und verantworten und…ach, es war ihm so lästig und störend in seiner ganzen Ordnung vorgekommen.
Er eilte zurück in sein Büro und suchte unter Bergen jene Akte und darin jenen kleinen Antrag. Er hatte die Idee, das Vorhaben damals gut gefunden, ja sogar bewundert. Er hatte zu sich selbst gesagt, wohl wissend, dass es nicht wirklich stimmte, die Absicherungen wären doch nun wirklich sehr knapp, es stünde ja in den Sternen ob diese Idee funktionieren könnte.
Er hätte vertrauen müssen – es wagen müssen… .
In seinem Beruf wagte man nichts, es sei denn unter Freunden, Kollegen, innerhalb der Beziehung, Vitamin B usw. Allenfalls nahm man das Bekannte, das Gewohnte. Etwas wirklich Neues barg Risiken.
Da war er, einseitig und schlicht: Der Antrag!
Er setzte sich an seinen Schreibtisch. Er erinnerte sich genau an diesen jungen Mann, der bescheiden war und seine Aufregung hatte nicht verbergen können. Er hatte ruhig dagesessen, alles angehört. Das Junge, Aufbrechende im Gemüt dieses Mannes hatte ihn genervt. Er tat so, als habe er genau so was schon x mal anhören müssen. War er damals schon in diesem Zustand von heute? Nein, damals hatte er sich noch besser gefühlt, besser als die Antragsteller ihm gegenüber, und erhöht durch seine kleine Macht.
Das Gespräch war unerfreulich verlaufen und er wußte noch, dass er mit schlechter Laune an diesem Abend aus dem Büro ging und die ganze Geschichte so schnell wie möglich vergessen wollte. Deshalb war er auch damals zurückgegangen, hatte die Ablehnung sofort selbst geschrieben und rausgeschickt. Den Vorfall in den Ordner verfrachtet, weg vom Schreibtisch, weg aus seinem Leben.
Einmal hatte er den jungen Mann in der U bahn gesehen, was ihn sehr gestört hatte. Jetzt war es vielleicht 10 Jahre her. Er ging zum Computer und googelte den Namen, fand aber nichts heraus außer der Adresse und Telefonnummer. Beides schrieb er nachdenklich auf ein Blatt. Er las den Antrag langsam und aufmerksam durch, ging an den PC und schrieb: „Nach langem Nachdenken genehmige ich ihren Antrag, und bewillige die von Ihnen beantragten Zuschüsse.“ Druckte den Zettel aus, unterschrieb und stempelte.
Es sind mehr als 10 Jahre vergangen. Er sah nach: Genau 12 Jahre. Warum war der Aktenordner eigentlich nicht im Keller oder entsorgt? Alle 7 Jahre kamen die Ordner in den Keller und nach 10 Jahren durften sie entsorgt werden…seltsam der Ordner war einfach vergessen worden.
Er blätterte ihn durch, wobei er erschrak, wie rigoros er damals gehandelt hatte – dennoch konnte er alle Entscheidungen akzeptieren…außer dieser einen… .
Er schrieb die Adresse auf den Umschlag, frankierte ihn auch per Einschreiben und verließ das Büro.
Von einer leichten Heiterkeit getrieben, ging er wieder in die Stadt, kam gerade zum Briefkasten, als dieser geleert wurde und warf den Brief in den offenen Sack. „Gerade noch rechtzeitig“; lachte der Postbote, „dann ist er zum Heiligen Abend noch im Briefkasten des Empfängers!“ „Ah, ja. Einen schönen Abend noch.“ „Ihnen auch!“
Er sah dem Postauto noch versonnen nach, dann beschloss er Geschenke zu kaufen. Er besorgte noch etwas Besonderes für seine Frau und ein Spiel für die Kinder. Er fand Einiges, womit sie nicht rechnen würden. Auf einmal machte es ihm richtig Spaß, er ließ sich alles schön einpacken, ging schnellen Schrittes zu seinem Auto und fuhr in jenes schöne Viertel mit altem Baumbestand, das am Stadtrand lag, zu sich nach Hause.
Es schneite immer stärker und wirklich alles wurde weiß, weiß, weiß. Aber das Weiße erschien ihm jetzt durchlässiger, leichter und lichter, viel lichter.
Mitten in der Stadt, wo sich in hohen Häusern unzählige Wohnungen, weit bis in die Hinterhöfe hinein verstecken, bewohnte er eine kleine, bescheidene, verwinkelte Wohnung.
Heute würde Weihnachten sein, dachte er, würde, ja würde! Für ihn war es irgendwie so nicht Weihnachten.
Was war Weihnachten?, dachte er, Sieg der Hoffnung. Er hatte immer groß erzählt, dass Weihnachten den Sieg der neuen Idee bedeutet, den Anfang eines neuen, hoffnungsvollen Weges. Das vergrabendste Licht im Dunkel bricht wieder hervor. Und nun?
„Ach komm“, er stand plötzlich auf von seinem kleinen Sofa. „Reiß dich zusammen! Nun los, hey! Heut‘ ist Weihnachten! Yeah!“ Er war ein Typ, der gerne alles anpackte und gar kein Freund jeglichen Selbstmitleids. Er konnte sich darin selbst nicht ernst nehmen. Sicher, er war müde und abgekämpft, sah keinen wirklich, erfreulichen Weg, der sich vor – oder besser – für ihn auftat.
Ein Blick über seinen Schreibtisch und das dahinter liegende Regal zeigten ihm deutlich, dass alle seine Projekte, obwohl sie wirklich gut waren, im Sande verlaufen waren oder in stillem Verharren, brach lagen, was er selbst immer mehr als Scheitern interpretierte. Er seufzte und räumte im Eiltempo alles auf, lief auf den nächsten Marktplatz, kaufte einen Weihnachtsbaum, stellte ihn sofort vor dem Sofa auf, raste in die Stadt, besorgte Kerzen und einiges zu essen, was er sehr großzügig und salopp zusammen stellte. „Heute ist Weihnachten!“ Er kaufte hier und da noch ein paar Kleinigkeiten zum Verschenken. Dass er alles noch vor Geschäftsschluss schaffte gab ihm ein gewisses Selbstbewusstsein zurück.
Nach einer Weile sah sein Zimmer wie verzaubert aus. Der Baum duftete und war schön geschmückt, auf dem Herd brutzelte ein Braten, und auch eingepackte Geschenke glitzerten unter dem Baum.
Eine Weile saß er auf dem Sofa und betrachtete sein Werk.
Dann beschloss er spazieren zu gehen.
Als er so durch die stillgewordenen Alleen lief, die Menschen machten Mittagsschlaf vor dem Heiligen Abend, fühlte er sich allein. Der Schnee knarzte unter seinen Füßen. Wie schade, dass nichts geklappt hatte, wie schade! Er dachte an sie und die Kinder. Würde sie wohl vorbeikommen? Sie war nie gekommen, er hoffte immer, kämpfen mochte er nicht. Er hatte es geschehen lassen, ja auch irgendwo verstanden, „Obwohl“, sagte er laut vor sich hin, „obwohl, hätte es so werden können, wenn es wirklich gut war?“ Aber das wusste man nie so genau, mancher Alltag, manche Umstände konnten zu schwierig werden, konnten einen verändern. „Wenn Menschen in Gefangenschaft sind, bleibt die Liebe dann gleich?“ fragte er sich. Andererseits, kann gerade die Liebe nicht nur für entspannte Zustände da sein.
Der Schnee fiel.
Er lief weiter hinunter zum Fluss.
Er hatte immer wieder vorgehabt eine Möglichkeit zu schaffen, wo Menschen sich begegnen können, ohne eine bestimmte Vorraussetzung oder Umrahmung. Es sollte frei sein von religiösen, politischen und gesellschaftlichen Anbindungen, mehr so ein zufälliger Ort, an dem sich ein gewisses kreatives Bewusstsein entwickeln kann. Es war Quatsch, er sah es ein, ja es kann so etwas nicht geben, weil, weil, weil… . Ihm vielen ja selbst tausend Gründe ein. Aber dennoch, musste er denken, als er jetzt so über den Fluss sah, auf die breite, alte Brücke, die sich hinüber schwang – dass es etwas hatte, was Berechtigung haben sollte.
Und es fiel ihm wieder ein. Damals, seine Idee. Er hatte sich sogar Konstruktionen kommen lassen und wer weiß was unternommen. Auch hatte er finanziell etwas geerbt, nicht viel, aber doch eine Grundlage. Zwei Freunde, die mit machen wollten, gab es auch. Inzwischen war alles anders gekommen, er hatte ein paar Projekte mit ihnen gemacht, aber die Freundschaft war nicht stabil genug, die Ideen erwiesen sich als zu unterschiedlich und die Ansichten über das Wie drifteten irgendwann unerträglich auseinander. Er beschloss zur Brücke zu gehen und nach zu sehen, ob jener Raum noch vorhanden war.
Tatsächlich, da war die Tür, wie zugerostet. Sie war nicht abgeschlossen.
Er stand in dem kleinen, leeren Raum unter der Brücke und sah auf den Fluss. Eine schöne Idee, dachte er. Er hätte es schaffen können. Er hatte damals geerbt, aber er hatte keine Genehmigung erhalten. Warum hatte man es ihn nicht versuchen lassen?
Es hätte keinen Sinn, hatte ihm der Beamte damals geantwortet, es ließe sich nicht umsetzen, und es zöge nachher die falschen Leute an. Es wäre zu gefährlich, ach und im Endeffekt eine schöne, geradezu märchenhafte Idee, aber völlig unrealistisch.
Er wußte noch genau, wie er es sich ausgemalt hatte. Wo überhaupt hatte er die Pläne? Mit den neuen Fenstern und dem Steinboden, den er hineinlegen wollte, ein paar von den flachen Steinen hatte er in seiner Wohnung einfach so auf den Boden gelegt. Er hatte an fünf Tische gedacht, drei Sofas und drei Reihen Kinostühle, die er damals, durch einen Zufall bei einer Tour über Land einfach so mitnehmen durfte aus einem alten Kino. Er wollte den Raum unterteilen und erst mit einer Hälfte beginnen, später sollte so für 30 höchstens 50 Leute Platz sein. Es sollte nur Kleinigkeiten zu Essen geben, und eben die große Leinwand für Filme und Diashows und andere Lichtbildvorträge. Wenn keine Filme liefen, hatte er die Technik so erdacht, dass der Fluss sich darin in gewisser Weise spiegeln könnte. Die Flussoberfläche sozusagen auf die Leinwand projiziert werden würde, oder auch der Himmel, oder beides auf besondere Weise ineinander gespiegelt.
Dies alles sollte die Menschen in einen besonderen Zustand heben, sie aus ihrem Alltag herausholen und gleichzeitig dachte er immer, unter der fließenden Bewegung kämen sie auf andere Gedanken, noch dazu mit dem weiten Ausblick von der Brücke. Für sich selbst hatte er gedacht, eine Brücke der Gedanken.
Naja, der Raum war kalt und düster… .
Er ging wieder hinaus. Alles Quatsch! Sonst hätte es sicher auch schon ein anderer gemacht, und jetzt ging es sowieso nicht mehr.
Inzwischen glaubte er nur noch, das Wichtigste sei durch zu kommen, die Tage zu besiegen, geradezu herunterzureißen. Keine Ängste in den Nächten aufkommen zu lassen, nicht krank werden, niemand zur Last fallen und durchhalten.
Er hatte mehrere soziale Projekte gemacht, mit Jugendlichen und Kindern gearbeitet, hatte gekellnert, ja eine Zeitlang mit Geschäftsmännern ein Unternehmen geführt.
Er hatte schnell gemerkt, dass hier kein Platz war, um irgend etwas zu hinterfragen oder gar Verantwortung für ein globales Weltwahrnehmen aufkommen zu lassen. Kosten? Profit, hieß das Zauberwort, koste es was es wolle. Und die Frage, auf Kosten von was, bedeutete das Ende. Die Frage, für wen, für wen?, spielte keine Rolle, durfte sie auch nicht, es ging um Zahlen, Zahlen in Metall, Papier.
Es ging eine Weile gut. Zu seinem Erstaunen klappte sein Part sogar recht erfolgreich, bis er meinte den Verstand oder sich selbst oder beides zu verlieren.
Jetzt arbeitete er beim Fernsehen, befasste sich mit Jugendsendungen und verlor allmählich den Zusammenhang zu irgendwelchen Inhalten und Sinnfragen. – „Na auch kein Zuhause mehr, am Heiligen Abend?“, nickte ihm eine alte Frau zu. Er sah an sich herunter, sah er schon so aus?
In Gedanken versunken öffnete er seine Wohnung und freute sich, dass er es so schön gemacht hatte, obwohl es ihm komplett sinnentleert erschien.
Er kochte sich einen Tee und schob den Braten in den Ofen, eine Unruhe trieb ihn. Er ging ununterbrochen im Zimmer auf und ab. Sah etwas fern, ging vom Schreibtisch zum Sofa, zur Küche, putzte ein bisschen Staub weg, stand lange am Fenster.
Dann schob er das Sofa beiseite, öffnete die Klappe zu einem kleinen Speicherplatz und holte eine Kiste heraus. Schachteln waren darinnen, Fotos, unzählige von der Brücke und dem Raum und den Lichtverhältnissen dort.
Er zog die ganze Kiste heraus, schob das Sofa wieder an seinen Platz, kniete sich auf den Teppich und breitete alles aus. Die Pläne, Einrichtungsfinanzierungstechnik-Pläne. Er wußte gar nicht mehr, dass er sich solche Mühe gegeben hatte, und das alles eigentlich haarklein fertig war.
Ein besonders schönes Bild stellte er vor sich auf den Tisch, die anderen Sachen packte er wieder in die Kiste. Warum hatte er niemand eingeladen? Naja, ist nicht grad der günstigste Tag um jemand einzuladen… . Alle hatten Verpflichtungen und er selbst hatte alle Einladungen abgelehnt. Er hatte das Gefühl gehabt, sie beförderten geradezu seine Stimmung des Entschwindens. Und eines stimmte: er fühlte sich heute mehr da, als schon lange nicht mehr.
Der Braten war fertig. Er holte die alte Kamera vom Regal, mit der er damals die Fotos seines Projektes gemacht hatte, säuberte sie. Die alten guten Kameras hatten schon gute Dienste geleistet.
Er kramte in einer Schublade und fand einen Film, legte ihn ein und obwohl er wußte, dass die Bilder wahrscheinlich nichts werden konnten, knipste er den Weihnachtsbaum mit dem aufgestellten Foto, was er wirklich schön fand. Er legte Musik ein.
Er dachte an andere Leute; wußte irgendwie, dass niemand überraschungsmäßig kommen würde.
Die nächsten Tage würde er wie immer seine Frau und die Kinder treffen und ihnen die Geschenke geben, war ja auch gut so. Sie führten ein anderes Leben und waren sicherlich glücklich unter einem Weihnachtsbaum.
Er sah zum Fenster hinaus und nahm die Stadt bewusst schön war, sah in der Ferne die Brücke, die er so liebte. Immer schon. Als kleines Kind, hatte er sich gefragt, wie man so etwas bauen konnte. Er hatte es geliebt über die Brücke zu laufen, hinunter auf den Fluss zu schauen, hinauf in den Himmel, die Flugzeuge, die aufflogen irgendwohin, die Schiffe die flussaufwärts und flussabwärts fuhren. Auch dieses Gefühl des Hinüberkommen-Könnens. Ohne eine Brücke, käme man nicht so einfach hinüber. Gäbe es keine Schiffe und keine Fähren und keine Hubschrauber, so müsse man bis zur Quelle laufen oder zumindest bis an den Ort, wo der Fluss noch ein kleiner Bach war.
Er hatte damals diesen Weg vor sich gesehen, sehr weit und beeindruckend, hatte den Weg auf der Landkarte mit dem Finger nachgezogen. Er wusste noch genau, als er ungefähr fünf Jahre alt gewesen war, hatte er Angst gehabt, wenn seine Mutter über die Brücke zur Arbeit fuhr und er im Kindergarten auf der anderen Seite war. Was, wenn die Brücke zerstört würde? Dann wäre er allein und es wäre unmöglich zu seiner Mutter zu kommen. Sie könnte ihn nicht abholen, sie wären getrennt. Tränen stiegen ihm dann in die Augen und er konnte den ganzen Nachmittag nicht mehr mit den anderen spielen. Er bat seine Mutter auch deshalb ihn mit zur Arbeit zu nehmen, er wäre super leise. Als eine Kindergärtnerin ihn einmal bedrängend fragte, blieb ihm nichts übrig als davon zu erzählen, dass er Angst habe die Brücke könne Schaden nehmen. Sie lachte, „So ein Quatsch!“ Sie redeten im Kindergarten über Brücken und alle lachten ihn aus, als er auch hier Bedenken äußerte. Das war die Zeit, wo er nach innen stiller wurde, äußerlich aber draufgängerischer und witziger. Seine Gedanken in Bezug auf die Brücke änderten sich nicht, und die Ängste blieben. Nur tiefer vergraben in seinem Inneren. Er tröstete sich selbst durch andere Lösungen, die er sich erdachte. Seine Bewunderung und der Respekt und in gewissem Sinne auch die Dankbarkeit für eine Brücke war irgendwo tief in seiner Seele verankert.
Dieses Brückenphänomen, wie er es nannte, hatte er später spielerisch auf Menschen, Gespräche und Gedanken übertragen. Wenn man einen Menschen gar nicht verstand oder ihm nicht helfen konnte, musste man manchmal bis in ganz frühere Zeiten seiner Kindheit, seiner Quelle zurück gehen, bis man hinüber konnte, sozusagen ihn erreichen, ihn verstehen, ihm helfen.
So gesehen hatte er mal überlegt Psychiater zu werden, weil sie Brücke-sein ausübten, was er heute nicht mehr so sah. Glaubte er überhaupt noch an Brücken?
Naja, so gesehen schon, auch Worte können ja letztlich Brücken sein, Sprache. Waren ihm Gespräche brückenhaft gelungen?, dachte er.
Er sah hinaus.
Brücken sind schöne nützliche Bauwerke und eigentlich wäre es schon sehr schön, auf so einer Brücke eine gemütliche Zeit zu verbringen. Auf einem Regenbogen sitzen…, er musste lachen über seinen kitschigen Gedanken. „Werden wir doch romantisch? Melancholisch? Alter Junge,“ machte er sich über sich selbst lustig. „Hey Mann! Jingle Bells“.
Über der Stadt leuchteten Lichterketten.
Es begann sogar, wie eigentlich oft zwar heiß gewünscht, aber nie eintreffend: leichter Schneefall.
Ihm fiel ein, dass er noch nicht beim Briefkasten gewesen war. Er öffnete die Wohnungstür und eilte die Treppe hinunter, eine Fröhlichkeit erwachte in ihm, für die es gar keinen Grund gab. Doch, dachte er. Er war irgendwie glücklich mit sich, obwohl alles nicht geklappt hatte in seinem Leben, wie es klappen hätte sollen, wie er es sich gewünscht hatte.
Im Briefkasten Berge von Reklame, sicher auch irgendeine dumme Rechnung, die er heute Abend aber nicht öffnen würde, eine förmliche Froheweihnachtskarte von seinem Versicherungsberater, die übliche Weihnachtsgrußkarte vom Sender, bei dem er arbeitete, eine Reklamefernsehzeitung und noch irgendein Brief, der ihm nichts sagte.
Er schloss den Briefkasten, eilte jeweils zwei Stufen nehmend die Treppe hinauf. „Ich werde mal ein bisschen Nachdenken, und ich werde etwas ändern.“ Er warf die Post einfach auf den kleinen Tisch im Flur neben das Telefon, zündete die Kerzen an, machte die Musik lauter und holte sich ein Stück Braten, setzte sich auf das Sofa, betrachtete den Baum und schaute auf das Foto, das er aufgestellt hatte.
Dann erhob er sich, pustete die Kerzen aus und lief am kleinen Dielentisch auf dem die Post lag vorbei und verließ die Wohnung.
Ich werde einfach ein bisschen gehen, mal sehen was die Nacht so bringt, die Heilige Nacht.
Die ganze Stadt war eingehüllt in ein Glitzern von Schnee und Lichtern, weiße Weihnacht.
Zusatztext (nicht mitgelesen)
Mut haben, er hatte schon lange keinen Mut mehr gehabt. Er war alle diese Dinge umgangen und wenn man sich selbst immer mehr verdeckte, auf’s Neue aufgab, wäre zu hart gesagt, dann traf man auch keine Frage des Mutes mehr.
Hier hatte man nur Mut es besser zu wissen, zu schauen, was der andere tat, zurechtzuweisen, auszugrenzen. Was gab es Schlimmeres, als in jemanden seinen Glauben gesetzt zu haben, der dann versagte oder sich anders entwickelte als man glaubte. In positive Dinge Mut zu setzen machte einen fragwürdig. Nein, er wollte es jetzt ändern, nicht mehr dieses Verschonen, dieses verlogene jeder Frage und Antwort ausweichen. Er hatte nun diesen Antrag gehabt, gehörte er also auch zu diesen Menschen, die nicht mehr glaubten dem Leben etwas geben zu müssen, vielleicht auch zu können, er seufzte, aber glaubten alles vom Leben bekommen zu müssen und sobald es ein wenig hakte, nur ein wenig, ließ man es fallen, griff es an, tat sich leid. Man hakte es ab, als schlecht, sah weder Herausforderung noch Chance.