Beirut „Rachmene rachmene“
Beirut
„Rachmene, rachmene“,
wie hör ich ihre Stimme, die verbinden will. Sie trägt in sich endlose Weite der Wüsten, den Sand, die aufsteigende Hitze des Südens, so wie die staubleere Luft des Nordens klarer Klassik. Morgen und Abendland verbinden, das Gemeinsame finden, die gemeinsame Verbindung leben machen in Musik, durch Musik. Hier ist sie geboren, an der östlichsten Spitze des Mittelmeeres.
Beirut,
wieder trifft es diese Stadt und wieder, wieder liegt diese Stadt in Schutt und Asche. Ausgehöhlte Zukunft staubt durch Straßen, die nicht mehr tragen, nicht führen, nicht orientieren.
Kommt orientieren auch von Orient? (fragt er sich) hier treffen sich die Götter, Religionen auf kleiner Fläche, hier endet das Mittelmeer. Und wieder zeigt uns dieser Ort das Verderben. Allein durch Nachlässigkeit, durch Apathie, durch Gleichgültigkeit haben wir diese Zerstörung erschaffen. Hier wo jeder sechste ein Flüchtling ist, hier wo die Strände Bilder von menschenverachtendem Hass tragen und der von Überlebenswillen getränkte Aufschrei über das Meer schallt. Verzweifeltes Dasein wirft sich in unbekannte, todbringende Gefahren, um den mordenden Misshandlungen zu entfliehen.
Hier weiß das Meer, dass wir vergessen haben, das wir den Wert menschlichen Lebens längst vergessen haben. Auch der Himmel ist leer, kein Erbarmen, der Geldgott treibt sie alle ins Meer und die Wasser öffnen sich nicht. Wofür teilen, ihnen Wege schaffen, wenn sie nicht teilen, wenn sie nicht wissen, die Arme auszubreiten, ohne gekreuzigt zu sein. So klagen die Wellen, wenn sie ans Ufer schlagen. Müssen wir Verlorenheit wirklich am eigenen Leibe erleben, um sie zu fassen? Wissen wir es denn nicht von einander, einfach weil wir Menschen sind?
Etwas, dass wir liegen gelassen hatten in den Tiefen der Erde, in den Tiefen des Bewusstseins bricht aus und beraubt uns allen Schutzes, stiehlt uns unser Leben. Sinnentleerte Fenster rahmen allenfalls ohne besänftigendes Glas. Keine Träne zieht Spuren, fortgefallen in leeren Raum an Trümmern vorbei gestürzt. Masten werden zur Marterpfälen, die zerrupft wahllos in den Himmel ragen.
Kein Boot, kein Haus, kein Kind. Aufgerissener Boden wählt und wertet nicht, er fasst Leiber. Wieder ist diese Stadt zerstört. Würde sie doch zum Mahnmal, uns zu wecken. Orient, Sonnenaufgang, müßten wir nicht hier beginnen? Mahnmal uns Menschen, könnte es nicht uns spiegelnd zeigen,
was ist, ein Mahnmal: öffne Augen und Mund beizeiten.
Mahnmal auch unserem persönlichen Sein, wie oft sehen wir hinweg, haben nicht gesehen nicht gewußt, wollten nicht wissen, verschwanden wir. Bloß nicht sehen, die damit verbundene Frage ertragen wir nicht und Antwort wollen wir nicht verantworten. Wir gingen zwischen den Seilen und taten so, als wäre es schwerer, als sich auf das Seil zu wagen. Verschwinden in einer Masse, dann hätte es niemand und jeder sein können. Auf dem Seil kann nur der Einzelne laufen.
Ist es möglich, Zerstörung zu verstehen, ohne sie selbst erlebt zu haben?
Vielleicht ist dort der Morgen einer neuen Zeit. Wäre es genau gut, hier zu beginnen?
Hier zu beginnen, Hoffnung hinein zu bringen, ein neues Menschenbild zu bauen?
Würden wir nicht zu unserem Freund eilen ihm zu helfen, wenn sein Haus brennt? Mir scheint, inzwischen nicht mehr. Aber wenn wir es tun, befinden wir uns in einer anderen Welt. Das Versteckt in den Massen geborgen, zwischen den Seilen zu laufen, die uns zu Ketten geworden, und die weitreichende gravierende Folgen haben.
Wählen wir doch, bevor Wolken bersten und uns alle Fenster nehmen!
„Erbarme Dich „Bach Matthäus Passion
„Rachmene“ Fadia el-Hage
Karina Finkenau