5 ER: Spiegel für ein Denkmal

By K. Finkenau8. Juli 202020 Minutes

Nach dem Guss
Es hatte heftig geregnet. Nun fiel das Licht, fiel sehr freundlich auf die Straßen der Stadt. Der Regen hatte alle Flächen mit Spiegeln geschmückt und das Licht spielte in vielen Farben, verzauberte Räume zu einem glitzernden Spektakel. Die geklärte Luft feierte mit Licht und Schatten auf den Wänden der Häuser und den Halt bietenden Ecken und Kanten, Stangen und Schildern.
Sie hatten sich zu einem Spaziergang verabredet. Vor einem dieser großen Kaufhausfenster blieben sie stehen. Eine sportlich angezogene Schaufensterpuppe auf einer Art Segelattrappe schaute ihn an, hätte man meinen können, aber es war sein Blick, der an ihr oder besser den Spiegelungen, die gerade geschahen, hängenblieb. Die Dachrinne des gegenüberliegenden Hauses schien auf dem Kopf der Puppe befestigt zu sein. In seinem, im Fenster gespiegelten Gesicht, spiegelte sich das Gesicht einer Frau von dem Reclame Plakat auf der gegenüberliegenden Sraßenseite. Die vorbei fahrende Bahn mit ihren Fenstern verzerrte voller Geschwindigkeit seinen Oberkörper in flüchtende Farbstreifen, die Farbe eines Autos, das hinter ihm vorbei fuhr, sprang ihm, ihn beleuchtend, aus dem Fenster entgegen. In all diesem sah er nun sein Selbst, also sich gespiegelt. Als gäbe es sichtbare Schichten hatte sich ein weiteres, transparentes Blatt, über die Spiegelung von ihm gelegt und die Bahn hatte im Bilde seinen Oberkörper in Schlieren über das Fenster verzerrt. Er sah in seinem Gesicht Züge des anderen Gesichtes. Darüber fallende Schatten verfeinerten das Fenster zur Ansicht eines zart gewebten Bildes, was durch die aufgeklebte Umrahmung noch verstärkt wurde, Ausblick in einen gehaltenen, fließenden Film, ein bewegtes Gemälde.
„Das also ich,“ sagte er und dachte, wie nimmt sie, die neben mir steht mich wohl wahr?“ „Gefällt dir dieser Segel Aufzug?“ lachte sie, ich wußte garnicht, dass du dich dafür interessierst?“
Er sah sie an und freute sich sie nicht im Fenster zu sehen, sondern in klarem Licht, das in abendlicher Wärme über ihre Schultern glitt. „Nein, nein, mich hatte nur diese Spiegelung fasziniert, guck mal, schau doch mal auf die Schaufensterpuppe, man kann sie vor lauter Reflektionen kaum richtig sehen, wenn du dich auf die Scheibe konzentrierst,“ er hielt inne. „Oh, ja dein Gesicht mit der Schaufensterpuppennase und einer Dachrinne und hu, dieses Frauenreklame Gesicht mit deinem gemischt, interessant, lustig,“ lachte sie, das macht Spaß. sie eilte zum nächsten Fenster, das sehr groß direkt am Ende der Einkaufstrasse lag. Die ganze Straße spiegelte sich im Schaufenster. Dort standen Antiquitäten und Teppiche und Statuen, sodass sich die Spiegelungen auf eine ganz besondere Weise damit vereinten. Auch spiegelte sich das Fenster in der feuchten Straße wieder, dadurch entstand der Eindruck in einer anderen Zeit zu sein, was sie dazu anregte ihr Tuch locker um den Kopf zu schlagen, auch ihre Tasche nahm sie von der Schulter und hielt sie mit der Hand, dann trat sie ein paar Schritte vor und und ging in kleinen für sie untypisch trippelnden Schritten auf das Fenster zu, um sich in einer Statue gespiegelt zu finden. Sie betrachtete sich selbst in all dem, was durch ihre Spiegelbild schimmerte und was sich auf dieses legte, dann drehte sie sich zu ihm und fragte mit schnippischer Handbewegung mit zusammen geführten Lippen, „ Und Sie, mein Herr, auch unterwegs heute?“ Dann lachte sie. Eine ganze Weile gingen sie schweigend durch die Einkaufsstrassen. Blieben vor großen Wasserlachen stehen, „der Himmel liegt auf der Strasse.“ Sie beugten sich hinüber, zwischen weißen Wölkchen schauten ihnen ihre eigenen Gesichter, zu ihren Füßen liegend, entgegen.
Er trat in eine flache Pfütze. „Hey, du bist in den Himmel getreten.“
Sie entschieden zum Fluß hinunter zu gehen. „Sieh mal, die dunkle Gestalt.“ Ihre Silhouette stand klar und schwarz auf der gegenüberliegenden Wand. „Und jetzt, pass auf.“ Er trat hinter sie, so dass das Sonnenlicht ihm auch in den Rücken fiel, hob seine Arme seitlich und man sah seinen dunklen Schatten sich ihrem nähern und nähern, bis sie zu einem wurden, einzig ihre Köpfe ragten aus den Überschneidungsflächen hinaus. Er hätte sie gern umarmt, und obwohl es ihm so war, als hätte sie sich ihm entgegenkommend ein wenig zurück gelehnt, traute er sich nicht. Mit klarem Schritt trat er nach außen, bewegte schüttelnd seinen Kopf, als vertriebe er eine Phantasie. Als sie am Fluß angekommen waren, sagte sie, „ es ist schon merkwürdig sich selbst in dieser Weise von außen zu sehen,
in dieser Verzauberung der naßen Stadt.“ „Mit dem Sehen ist es so eine Sache, manchmal bin ich mir des Nichtsehens so bewußt, dass ich es vertreiben will und ich bin richtig dankbar, wenn sich wieder ein klares Bild bildet. Und ich mir sagen kann, es sind eben nur Pfützen.“ „Ja, klar,“ lachte sie, „das Innere Geschehen ist vielseitig, wenn ich lange mit dir solche Spielereien mache, die mich übrigens beglücken, blüht alles für mich auf, es befreit von der Enge unserer festgesurrten, vielleicht auch aufgedrückten Bestimmungen. Ich fühle Reichtum und Freude und Bewegung,“ fügte sie hinzu. „Und außerdem beneide ich dann nicht mehr all die, die Erfahrungen mit Halluzinogenen machen.“ „Naja, das ist wohl noch was anderes.“ „ So ein Spaziergang mit die ist für mich schon ein Ausflug.“ Er mußte viel gedacht haben, denn er sagte, „furchtbar ist nur, wenn du nicht aus zu steigen weißt, was heißt du findest die Oberfläche nicht mehr oder die eine Weise zu sehen, die Realität, die ein Konsens als solches bezeichnet, die uns auf einen Kommunikationsnenner bringt.“
Sie sah ihn an, er schaute auf’ s Wasser. „Wenn es manchmal zu schnell fort fließt oder durch mich fließt, kann es schon schlimm sein, auch Geschwindigkeiten manchen viel.- Und der Fluß fließt und wir reden, ein schöner Tag!“ Er wandte sich zu ihr. „Aber im Ernst, manchmal denke ich man könnte diese Möglichkeiten der Spiegelungen für etwas nutzen, ganz konkret einsetzen. Ich meine auf Jahrmärkten und in Horrorkabinets tun wir das ja schon lange, und ein Beweis kein Vampir zu sein ist es, wenn wir uns im Spiegel sehen. Also der Mensch ist zu sehen in seiner Spiegelung. Wären konkrete Spiegelungen und einem konkreten Spiegel nicht vielleicht eine Möglichkeit die Psyche zu bewegen?“
„Wie meinst du das? Hat es dich verändert psychisch, dich als dieser Segeltyp im Schaufenster zu sehen?“ „Na schon, es war amüsant, und ich konnte das fitte, stolze Gefühl eines sportlichen, sich selbst cool fühlenden, den Wind und das Wasser bezwingenden Mann, empfinden. Ich konnte kurz es genießend hinein träumen. Auch konnte ich Möglichkeiten sehen und meine Entscheidung. Ich wurde mir meiner Entscheidung, für mich eine andere Wahl getroffen zu haben bewußt.“ „Du segelst nicht, du bezwingst die denkenden Meere,“ lachte sie, „für mich wärst du auch komisch mit diesen Tarzanarmen und der übertrieben sportlichen Badeshorts, vielleicht hätte ich dich nie bemerkt, oder mich über dich lustig gemacht.“ „Nur wegen der Badehose und der Muskeln hättest du den, ahäm, philosophierenden Typ unterschätzt, oder garnicht bemerkt?“
Beide dachten nach, „neulich hatte ich bei meinem Gymnastiktraining ein ähnliches Erlebnis wie das, was du mit der Möglichkeit von Spiegelungen meinst. Ich fühlte mich plötzlich in der vormachenden Frau, ihr Bild überzog mich so stark, dass ich eine tiefe Traurigkeit in dieser Person wahrnahm. Als ein Mitgefühl in mir aufkam, sie mir näher wurde, zu jemand wurde, den ich kannte wie eine Freundin, eine Schwester, fühlte ich, dass sie nur noch Körper war, sie hatte sich verloren und ihre Hülle war perfekt und wurde perfekter und dahinter fühlte ich Traurigkeit und bemerkte auch, dass sie die Traurigkeit vor langem schon vergessen hatte, unter dem Deckmantel, alles wird gut und es klappt doch, und reich ist sie unglaublich, und ausgesorgt hat sie, und sie hilft anderen Menschen, mir auch, ihr Training ist gut. Unter der Dusche dann später bestürmte mich der Gedanke, den Mensch darunter sollte man nie vergessen, nie verloren gehen lassen ..“
„Das meine ich mit Einsatz der Spiegel. Alles scheint für uns einfach zu begreifen, was wir mit Sinnen erfassen können, und was wir sehen, was nicht Abstraktes.“ „Stimmt oft kann man nur verstehen, was man wirklich sieht. Wir sehen eine Krankheit nicht, hören wohl, dass sie gefährlich ist, hören irgendwo anders von Toten und dennoch können wir es fortschieben und für ach nicht so wahr vor uns selbst erklären. Nicht gesehen, nicht geschehen.
Tatsächlich ist ein Mensch, ein Mensch. Wir wissen es, aber solang er uns fremd ist, ist es vielleicht schwer zu glauben, dass er fühlt wie wir, liebt wie wir, sorgt, fürchtet, atmet wie wir. Wir erfassen ihn nicht als Mensch, Er ist fremd, wir glauben er geht uns nicht an, im Sinne von: wir Menschen, er ist ein Feind, ein Anderer und du weißt schon …..
Vielleicht wird die Hinein-versetzungs-leistung sehr erleichtert durch das Sehen, durch eine herbei geführte Hinein-spiegelung.“
„Du meinst Spiegel, die mit Hilfe von Computersimulation einen anders zurück spiegeln?“ „Ja, man muß es aber eindeutig als sein Spiegelbild erkennen und akzeptieren, als wäre es so.“ „Denkst du an das Erwachen als Käfer, wie bei Kafka?“ „Ungefähr schon, ich meine aber, es sollte unbedingt nicht in kafkaesker Weise erschreckend und bedrohend und in Angststarre versetzend sein. Mir geht es darum offene, wahre, tolerante, die Aufnahme beweglich machende Wahrnehmungsmöglichkeiten und Zustände hervor zu rufen. Einen, die Ausgangssituation des anderen nachvollziehenden Moment anzubieten, ein Mitfühlen erwecken durch das, auf diese Weise hinein gespiegelte Selbst. Im Erkennen und der Annahme seiner selbst als Mensch, auch den anderen  zu erkennen und annehmen zu können, in seinem Mensch sein.“ „Wenn ich also in jenen Spiegel schaute, könnte ich mich sehen, als eine andere Frau in anderer Rolle, in anderer Hautfarbe zum Beispiel in meinem Äußeren als Asiatin, oder auch als Mann oder klein und groß?“  „Es müßte so sein, dass deine Wahrnehmung das Bild so annehmen kann, als ein wirkliches Du, das du als Ich empfindest, weil es simuliert, du zu sein.“ „Und nicht nur in Gestalt aus anderer Kultur, als Araberin, Perserin, Mulattin, Indigene, als Afrikanerin, als schwarz, rot, gelb, weiß, braun, sondern auch als Soldat, der freudig in den Krieg zieht, der nach dem er mordete zurückkehrt, als Arbeiter, als Manager, als Säufer, als Bettler, als Richter. Es müßte so gut simuliert sein, dass du dich so fühlst.“ „Das fasziniert mich, das muß unheimlich und sehr bewegend sein,“ „Ich glaube es könnte heilend sein, es könnte uns Möglichkeiten eröffnen, intensiver zu leben, wacher.“
„Ein bißchen erinnert es mich an diesen Spruch, „in den Moccasins eines anderen zu gehen.“ „Es wäre ein Versuch in einer kleinen Weise ein Stückchen fast in den Schuhen eines anderen zu gehen. Das Wichtige ist, dass wir uns zu nähern versuchen, den anderen in achtender Weise wahr zu nehmen, zu verstehen suchen und über den Weg durch uns selbst den Mensch in ihm wieder sehen. Im Theater versucht man es, aber dies wäre eine andere Weise. Ich glaube eben deshalb, weil wir unsere Vorstellung mit unserem eigenen Gesicht besser wahrnehmen können.
Dann haben wir im wahrsten Sinne wörtlich ein Gesicht gehabt, eine Erkenntnis. Wenn ich Computertechniker wäre, würde ich es versuchen.“
Die Menschen lieben solche Spiele auf Handys und Jahrmärkten, geben sogar viel Geld aus. Aber wäre ein psychische Überraschung, ein Erwachen, ein mehr, auch über sich erfahren in der Hautfarbe in der man ist, nicht eine wesentliche Erweiterung unserer Erfahrungswelt? Unseres globalisierten Miteinanders? Es wäre vielleicht, eine Art den Acker in der Psyche zu pflügen für den kleinen Samen des Mitgefühls.“
Sie sah zum Horizont, dann zu ihm und seufzte, was für ein schönes Bild, ein Acker im eigenen Inneren, der in einem als Möglichkeit angelegt ist. Und, hat man ihn einmal gepflügt und einen Samen hineingelassen, wächst dieser aus sich heraus zu einer großen, blühenden, fruchtreichen Pflanze, uns eine erweiterte, intensivere Welt ermöglichend. Ich würde in den Spiegel schauen,“ sagte sie, „aber du müßtest auf mich aufpassen, vielleicht.“  Ihm kam es vor, als hätte ihre Stimme einen weicheren offeneren Klang bekommen, „vielleicht, wenn ich mich in anders farbiger Haut sähe und fühlte, und ihre Zusammenhänge empfände, ihr ungerechtes Ausgestoßensein, die Missachtung die ihr entgegenstrebt, die Sehnsucht, die sie fühlt, die auch meine Sehnsucht ist, die Angst, die ich in mir weiß, das Hoffen, den Freund an der Seite nicht zu vergraulen, und ich sähe mich als Soldatin und müßte ertragen gemordet zu haben und wieder in den Alltag zu gehen, meine Kinder zur Schule bringen, ich weiß nicht, ob ich das allein immer tragen könnte, vielleicht bräche ich in Tränen zusammen.“ „Ach“, er lächelte sie, an „sofort ließe ich dich dich sehen im Körper eines üblen Staatsführers und du wärest so erleichtert, wenn du wieder deinen Blick auf dich werfen kannst, dass du vor Freude tanzt.“ Sie sah ihn befremdet an, „nein, natürlich spiele ich dann den Held, den starken Mann.“ “Spiele,“ sagte sie vorwurfsvoll, „nein, ich werde es sein und dich tröstend aufrichten etwas zu tun und neu zu beginnen und in die Kraft des Samens zu vertrauen.“ Sie lachte, „Ja ja,“ „Lachst du mich aus?“ „Quatsch, vielleicht fiele mir dieses Opfer der schwarzweiß Einfachheit, des Wissens, wie es geht zu gehen hat schwer, die Verantwortungslosigkeit und die dadurch gegeben Absicherung einfach opfern, für ein von Entscheidungen durchzogenes, eigenständiges zu verantwortendes Leben?
Würde ich von da an in allen Menschen das wertvolle Menschsein sehen, könnte ich dann noch mitmachen? Könnte ich dann einwilligen in sie opferndes, quälendes, ausnutzendes, mißbrauchendes Verhalten?“
„Du würdest sehen,“ sagte er, „nie wieder könntest du einen Menschen frei von dieser Erfahrung ansehen. Das, genau das ist es, was ich meine.“ „ Das Leben ist so schon grenzwertig kompliziert für mich.“ „Das, was wir dann erkennen, ist ja sowieso da und wir wissen es, wir schieben es nur irgendwohin, nur beiseite, leugnen es und sperren die aus, die es nicht verleugnen können, und wir verbrauchen den Hauptteil unserer Kraft für das Wegschauen, das Wegschauen macht das Leben erst so kompliziert. Schauten wir hin, blieben wir uns selbst näher und anderen auch, wir wären dem Menschen näher und dem Frieden.
„Die Kunst versucht das, nicht wahr?“ sagte sie, „aber jetzt sind wir zu schwerhörig geworden, wir brauchen stärkere Sichtbarkeit um nicht entfliehen zu können, was es aber für die, die es haben schwerer, sogar zu schwer machen kann und sie werden so in eine Einsamkeit gezwungen.“ Sie traute sich nicht ihn an zu sehen und auch nichts zu fragen, hatte er jetzt gewagt von sich zu sprechen? das erstmal, sie gingen schweigend wieder zur Strasse hinauf.