der 24. Dezember

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Der 24. Dezember | Finkenau

 

Heiligabend. Er öffnete die Wohnungstür, ließ trotz der Kälte seinen Mantel offen. Die Stadt lag still in Weihnachtslichter gehüllt. Die Menschen waren in den Wohnungen, Häusern, Villen zur Bescherung. Er ging eilenden Schrittes fort.Alles an seinem Leben tat weh.
Es war nicht mehr.Das Stumme, Gleichgültige… .Nein!Alles regte sich auf einmal, durchzogen von Schmerz, und die graue Wand war durch nichts zu verschieben. Sie ergriff Besitz. Unerbittlich und erbarmungslos.
Manchmal bäumte er sich auf. Er erschien sich durchdrungen von immenser Kraft, aber es verpuffte lächerlich…strauchelndes Pferd, wie konntest du es wagen…ja, nicht wagen, überhaupt dir zutrauen… .Heute jedenfalls würde er ein Ende bereiten. Kapitulieren. Er war mit sich nicht zurechtgekommen, mit nichts fertig geworden.Er gab sich nicht nur auf, nein, er konnte sich keine einzige Zeit mehr ertragen.

Seine Füße trugen ihn zum Bahngleis.
Er hatte sich eine bestimmte Stelle genau ausgesucht. Hier kam niemand jeh vorbei. Niemand würde ihn davon abhalten können, noch bemerken.
Hier auf dem kleinen Hügel, der steil abfiel zum Gleis hin, so dass man einfach so hinunterplumpsen könnte. Es wäre ein kurzer Moment und vorbei.
Auch vom Zug würde man ihn erst sehen, wenn er schon gestürzt war, so dass sogar ein langsamer Zug den sicheren Tod bedeuten würde. Fast war etwas wie Freude, es war das Leben, dass in diesem kleinen Entschluss lag. Und es war ein mutiger Entschluss, obwohl er es selbst als eine riesige Niederlage empfand. Aber dieses Dröhnen, dieses alles-durchdringende…die Wand fraß ihn, und weiter…weiter ging es nicht.
Es war wie Zahnschmerzen nur heftiger und überall, vor allem in der Seele. Wenn es kein Entkommen vor diesem Schmerz gab, wollte er ihm ein Ende setzen bevor er zerbarst.Er war müde. Es hatte nichts mehr mit anderen zu tun, er konnte auf andere keine Rücksicht mehr nehmen. Es war auch nicht so, wie bei manchen die Rache empfanden und strafen wollten: da seht ihr, ihr seid schuld… . Nein, all dieses spielte gar keine Rolle.
Er war einfach am Ende, und der Einzige, der ihm helfen konnte zu sterben. Er half sich selbst. Alles Grau der Wand zerbarst ihn und fraß ihn auf. Springen wäre einfach Ruhe und Befreiung und Ende. Die Wand war in ihm und außerhalb und überall! Er strauchelte, stürzte plötzlich, fing sich wieder und schleppte sich durchs Gestrüpp in Richtung Hügel und Schienen.Auf einmal hörte er es. Dieses Weinen. Dort auf dem Hügel, an der Stelle, der bestimmten, wo es direkt steil hinab zu den Schienen ging, stand ein Kinderwagen! Ein kleiner Windstoß würde ihn hinunterstoßen, vor den Zug!
Wie lange mochte er schon da stehen? Er hörte das Wimmern, ein Winseln, wie ein Winseln von einem kleinen Hund.
Er sah in den Kinderwagen, der äußerst wackelig dort stand, ein Säugling lag darinnen. Erschrocken hielt er den Wagen fest.
….man wollte ihn damit versuchen,…
…….er hatte sich im Leben eher verdrückt, nie getraut einzugreifen…
……es war eine Falle,…
…..was bloß? Man würde ihn auslachen, ein Kind, einen Kinderwagen…
………….er konnte für niemanden sorgen …

Jemand wollte das Kind entsorgen und er wollte sich entsorgen:
Er war am Ende.
Er konnte es mitnehmen, mitnehmen in den Tod.
Vielleicht nahm er es nur wahr, wie eine Art Begleiter, sein kaputter Geist hatte ihn erbaut.
Jetzt springen – sein geplanter Zug war schon vorbei.
Dieses Kind hielt ihn auf, aber hier kamen genügend Züge.
Er hatte Zeit, was tat es zur Sache, welchen er nahm –
…die Mutter der Vater, was waren das wohl für Menschen? Waren sie vielleicht schon Tod und überließen diesem Kind allein das Leben. Was würde geschehen? Man würde ihn verhaften, wegen dem Kind. Man wußte ja nicht, was mit ihm war…oder ihm Dankes-Orden umhängen, als Retter, das Kind in ein Heim bringen, ihn bewundern und alles wäre gut. Aber es war die Wand.
Wenn er das Kind mitnahm würde er es nicht mehr hergeben, wurde ihm ganz klar, er würde es verteidigen und mit ihm fliehen. Warum ausgerechnet das Kind jetzt, ihm? Und es lebte und es schrie, wenn auch nur schwach und es sah ihn an. Es sah ihn an.
Es war wie sterben, alles brach ein, auch die Wand und er sah seine Angst. Seine Angst, die da stand vor dem Leben.
Das Kind reckte sein Ärmchen. Er sah die kleine Hand zu ihm hingestreckt, er berührte sie, fühlte die klitzekleine Hand und etwas das unsagbar zerbrechlich war…wie konnte es so zerbrechlich sein? So schutzlos? Das Leben war roh und was gab es? Nur ihn und sein Versagen… . Der nächste Zug donnerte vorbei: „Lass uns sterben“ sagte er und vermisste die Wand. Er griff ins Leere, sie war nicht da. Warum? Warum waren alle anderen berechtigter?Ich möchte nicht sterben, es ist nur furchtbar ohne eine einzige Kraft zu leben.Er blieb. Er schaukelte den Wagen, er weinte, er ließ die Leere zu und die Einsamkeit und die Hilflosigkeit… .
Der nächste Zug donnerte vorbei. Wenn nur die Schmerzen innehielten dann spränge er.
Wenn es eine Tablette gegen die Schmerzen gäbe, wenn diese zerfleischende Verlorenheit aufhörte… .

Das Kind, so klein, sah ihn an, ihn an so klein.

„Es gibt keine Lösung“, sagte er, und doch schob er den Kinderwagen vom Abhang fort und den Hügel hinunter. „Das Leben, was dann? Was soll mit dir werden? Vielleicht bist du dann eines Tages so zerfressen von Schmerz, allein mit dem unendlichen Grauen? So wäre es vorbei!“ Manchmal überkam ihn Hass auf alle. Er würde es ihnen zeigen! Sie würden jeden einzigen Tag bereuen, was sie ihm angetan hätten, oder dass sie ihn nicht bemerkt hatten. Sie würden dann wissen, dass er da war und dass sie es nicht anders verdient hätten, als die Last der Schuld zu tragen. Dieser Hass endete dann in einer verzweifelten Wut, die seinen Körper schüttelte, bis er sich schluchzend vorfand – was er hasste – laut aufheulend in seinem Zimmer.
In letzter Zeit hatte er diese Anfälle besiegt. Sie blieben aus. Einzementiert. Es blieb still.
Dann wiederum überkam ihn ein Mitleid, wenn er an seinen Tod dachte und er merkte, was er anderen damit antat, vielleicht antat.Der Hass auf sich selbst und seine Unfähigkeit zu leben, stießen ihn in eine ebenso große Verzweiflung. Jetzt aber konnte er an niemanden mehr denken, alles war ihm entwichen. Keine Rücksicht. Keine Träume. Kein Hass. Nur grau, nur dieses Graue, dass ihn einzementierte; ihn von außen und innen auffraß.
Er konnte das Leben, das andere Ufer nicht mal mehr erahnen. Es gab es wohl gar nicht. Nur graues Nichts. Das schmerzte, und dieses graue Meer, in dem er schwamm, taub und ohne Ausweg, nahm kein Ende. Und dieses Etwas was noch war, noch sah, das würde er auslöschen, jetzt heute.
Es war genug. Vor nichts fürchtete er sich. Vor keinem Schmerz, nur Schluss. Dieses letzte Zerbersten…und da war er der Kinderwagen. Das Kind schrie nicht mehr. Es sah ihn an…es musste sehr klein sein.
Er hatte keine Ahnung von Kindern. Neben der Decke steckte ein Umschlag, darin war eine Geburtsanzeige. Der Name der Mutter war komplett herausgerubbelt, der Ort der Geburt auch. Darin stand 2800 Gramm, geboren am – das Datum war ebenfalls entfernt. Nur der Vorname stand darin. Vivo. Ein leerer Kinderausweis, aber ein ordentlicher Stempel und eine Rathausamtsunterschrift war darinnen und ein guter Schreiber lag daneben.

„Wir gehen sterben“, sagte er, auf einmal erfüllt von einer Ruhe, und schrieb mit dem Stift seinen Namen als Vater in den Ausweis.
Seinen Entschluss sich das Leben zu nehmen hatte er vor drei Wochen gefasst. Er erinnerte sich genau. Er war in jener Nacht des dritten Dezembers aufgewacht und dieses Datum trug er als Geburtsdatum in den Ausweis ein.
„Du hast niemanden, und in 30 Minuten kommt der Intercity. Wir gehen.“ Sein Entschluss jetzt erstmal mit dem Kind nach Hause zu gehen stand fest. Es war der erste klare Entschluss seit Jahren, außer dem Entschluss heute zu sterben.
Eine klare Entscheidung, ein klar, ruhig gefasster Entschluss. Ihm gingen Gedanken durch den Kopf… wie es gehen könnte, was sein könnte…Polizei, Nachbarn, Gefängnis ……. aber um diese Zeit würde ihn niemand bemerken, obwohl, die Leute bemerkten schnell, wenn man Leben bei sich trug; schnell und sie waren dann aufmerksamer, als in jeglicher anderen Situation. Er sah über die Gleise und in die Nacht, warum können wir uns nicht lassen? Warum glauben wir immer es gäbe zu wenig Leben, zu wenig für uns, wir müssten es wegraffen. Die Nacht war groß und er war sehr allein. Das wusste er auf einmal. Aber es erschütterte oder berührte ihn nicht. Diese Ruhe blieb. Und er war dankbar, diese Ruhe war wie eine Geborgenheit, die er seit Jahren nicht mehr empfunden hatte – „zereilt“– dachte er. Das Kind bewegte sich. Er schob den Kinderwagen langsam den Berg hinunter. Es war 9 Uhr abends als er seine Wohnung erreichte. Wie seltsam und wie gut, dass das Kind nicht schrie. Vielleicht war es schon zu schwach, vielleicht starb es… .
Er war traurig. Er fühlte wieder etwas! Es muss etwas essen, Milch ist nicht gut, das Wichtigste ist Wasser. Er erwärmte Wasser und ein wenig Zucker bis es handwarm war, tropfte es mit einem Löffel auf die Lippen, das Kind leckte den Tropfen auf… . Eine Stunde brauchte er bis der kleine Becher leer war. Vieles ging ihm durch den Kopf. Das Kind schlief. Hier wollte er nicht bleiben, konnte er nicht bleiben. Er suchte alles Geld zusammen nahm seine Brieftasche mit dem Kinderpass, packte eine kleine Reisetasche, die er unter den Kinderwagen schob, nahm das restliche Brot etwas Zucker und eine große Flasche Wasser mit und verließ das Haus. Der Nachtzug würde in einer Stunde abfahren. Zum Glück war der Zug leer und er schaffte es sich ein Ticket am Automaten bis zur Endstation zu kaufen.„Eine Weile musst du durchhalten.“ Er stieg ein, fand sein Schlafwagenabteil. Er konnte das Kind nicht aus dem Wagen nehmen, noch nicht. Der Zug fuhr durch die Nacht, als der Schaffner kam, ging er zu ihm an die Abteiltür und gab ihm die Fahrkarte. „Gute Reise“, murmelte der Schaffner. Er zog die Vorhänge zu. Er saß da ohne sich zu bewegen, den Kinderwagen vor sich. Außer dem Zugfahrgeräusch war es sehr still. Plötzlich sprang er auf, sah in den Kinderwagen, wenn es nun gestorben war, was dann? Was sollte er dann tun? Er konnte sich aus dem fahrenden Zug stürzen. Er beruhigte sich – aber wäre er dann auch sicher tot? Wieso hatte er eigentlich Angst? Er wollte sterben, was könnte ihn eigentlich bedrohen?
Am leben bleiben, dachte er, am leben bleiben. Er beruhigte sich, das Kind atmete und schlief. Er wußte, er würde sich darum kümmern müssen, man müsste es wickeln. Aber er konnte das jetzt nicht, er konnte nicht näher kommen.
Wie sich kümmern? Kümmern um ein Leben? Er ärgerte sich, ohne ihn wäre das Kind schon tot. Und ohne das Kind wäre er schon tot. Und jetzt fuhren sie in dem Zug, der sie vielleicht überfahren hätte… .Lange saß er unbeweglich da. Kurz war er eingenickt, wachte aber von einer Bewegung des Kindes auf, flößte ihm wieder Zuckerwasser ein und schlief ein. Als er erwachte, wurde es hell. Die Landschaft draußen hatte sich komplett verändert. Er öffnete das Fenster. Der Fahrtwind blies ihm ins Gesicht, als wüsche er ihn.
Er setzte sich wieder und schaukelte den Wagen. So ging es den ganzen Tag. Einmal kam nochmal ein Schaffner, dann war Schaffnerwechsel, sodass niemand merkte, dass er das Kind niemals aus dem Wagen nahm. Er stieg aus, schob den Kinderwagen in eine neue auch ihm völlig unbekannte Welt. Er ging tiefer in das Viertel hinter dem Bahnhof hinein. Je weiter er ging, desto ärmlicher und heruntergekommener war es, was ihn beruhigte. Viel Müll lag auf der Straße, lauter kleine Kneipen und Rotlichtbars standen zwischen heruntergekommenen großen und kleinen Häusern. An einer Straßenecke sah er ein kleines Hotel, es wirkte freundlich und hell. Er ging schnell hinein, fragte nach einem Zimmer, was ihm sofort angeboten wurde. Der alte Portier wollte fragen, ob seine Frau nachkäme, aber er unterbrach sich selbst, wandte sich zur Tür und wünschte einen guten Aufenthalt.

Das kleine Hotelzimmer war hell. Er öffnete das Fenster sah hinaus auf einen schmuddeligen Hinterhof, Wäscheleinen zogen sich zwischen den Fenstern hin und her. Ein abgemagerter Hund lag an einer viel zu großen Kette und bellte müde. Er schloss das Fenster, zog seine Jacke aus, wusch sich die Hände und ging zum Kinderwagen. Vorsichtig hob er das Kissen an, sein Herz klopfte. Wie hilfesuchend sah er zum Fenster, bezwang sich, versuchte sein Zittern nicht wahr zu nehmen.
Das Kind sah ihn an. Sehr vorsichtig und langsam näherte er sich und hob es aus dem Kinderwagen, setzte sich aufs Bett und trug es auf seinen Händen, unsicher. Das Kind rührte sich nicht, es war so leicht, so klein, es dauerte eine Weile bis er sich traute es aufs Bett zu legen. Er lief zum Waschbecken, mit einem warmen, feuchten Handtuch wusch er vorsichtig das winzige Kind, das schwach strampelte. Er wickelte es in Tücher, es versuchte zu weinen, er tröpfelte ihm wieder Wasser ein. Dann traute er sich, er nahm es auf den Arm, sah es an, tröstete es. „Stirb jetzt nicht, jetzt bitte nicht! Nicht sterben!“ Plötzlich schüttelte ihn von innen etwas, als stürzten Gebäude ein. Er legte das Kind in den Wagen. Ein Schluchzen brach aus ihm heraus. Er hielt seinen Kopf.Als er sich wieder beruhigt hatte, deckte er das Kind zu. „Vivo wir gehen; ich besorge Milch und Windeln“. Er fand schnell einen Laden, wo er alles bekam, eilte nach Haus und machte das erste Fläschchen. Es war schwer Vivo zum Trinken zu bringen und nach wenigen Schlucken schlief er immer erschöpft ein. „Vivo, es wird besser werden. Wir werden es schaffen, es wird alles anders sein.“ Er ging zum Fenster, ließ die warme Abendluft hinein, „Vivo, draußen im Hof ist ein Hund… .“
Er erzählte die ganze Zeit, bis er selbst im Bett lag und den Kinderwagen neben sich schaukelnd, einschlief. Er erwachte vom Weinen des Babys. Er fütterte es, wickelte es und trug es leise summend durchs Zimmer.
Er sah in die Nacht hinaus, mit dem Säugling, der aufs friedlichste in seinem Arm schlief, und träumte einer Zukunft zu, auf die er sich freute. Das rieselnde Geräusch einer brechenden Mauer, würde auch versickern. Dann schliefen beide bis zum späten Vormittag. Eine Weile würde es so gehen können. Da er die letzten Monate kaum Geld ausgegeben hatte, würde er gut noch ein viertel Jahr so leben können. Bis dahin fände er eine Lösung, eine Idee, dachte er.
Die erste Zeit hatte er befürchtet man wäre ihm misstrauisch gegenüber, wegen des Kindes, aber es war nicht so. Im Gegenteil, in den Läden und kleinen Bistros dieser Straßen und auch im Hotel war man äußerst freundlich und hilfsbereit.
Eines Tages wurde ihm klar, dass ihn niemand auf das Kind oder seine Situation ansprach, weil alle glaubten, seine Frau, die Mutter des Kindes, wäre wohl verunglückt und der unglückliche, verwitwete Vater bräuchte eine Weile um sich wiederzufinden. Sicher habe er vor Schmerz sein altes, gewohntes Leben abgebrochen und wollte in einer komplett neuen Umgebung neu beginnen.  Er dachte darüber nach. Ja, sein altes Leben hatte er vor Schmerz abgebrochen, aber er lebte, lebte noch mit Vivo. Und beiden ging es gut.

Er konnte immer besser mit dem Kind umgehen. Er fand eine Arbeit am Hafen, zunächst half er einfach aus, hatte das Kind dabei und in den Zeiten, wo es schlief, half er Schiffe mit zu entladen. Dann half er dabei Sachen zu liefern und konnte vorne im Lieferwagen das Kind bei sich haben. Allmählich lernte er Leute näher kennen und er fand die Möglichkeit das Kind in einer kleinen Krippe stundenweise unterzubringen. So verging eine gute Zeit.
Vivo war ein ausgesprochen fröhliches Baby, was vielleicht auch dazu beitrug, das niemand jemals auf die Idee kam etwas zu hinterfragen.

Als das erste Jahr vergangen war, eben am Heiligabend, packte ihn die Erinnerung an den letztjährigen 24. Dezember sehr stark, auf eine sehr bittere Weise, und er konnte sie nicht beiseite schieben, nicht wie an anderen Tagen, wo sich alles in ihm erinnerte und er es irgendwie schaffte sich abzulenken, oder dieses zu umgehen. Doch er wurde jäh unterbrochen. Vivo saß auf der kleinen Treppe vor der Haustür und wippte, wippte so heftig, dass er für einen kurzen Moment stand und noch einen Moment. Und da war er: der erste Schritt von Vivo! Er plumpste auf den Po, krabbelte zurück und begann von neuem. Er eilte erfreut und auf einmal ganz aufgeregt ein paar Schritte vor Vivo, hockte sich hin, breitete die Arme aus und rief, „Komm Vivo! Komm!!“ und Vivo lief die ersten Schritte auf ihn zu.
Ähnlich war es gewesen mit Vivos ersten Worten. So vergingen die ersten Jahre und es war ein schönes Leben, dachte er. Manchmal hatte er Angst, dass so etwas wie damals wiederkommen könne, so ein Schmerz in der Psyche und Seele, oder, wenn ihn eine Traurigkeit, wie man sie ja von Zeit zu Zeit normalerweise einmal hat, befiehl, hatte er Angst, es könne schlimmer werden oder nicht mehr fortgehen. Aber, war es Vivo von dem er diesen anderen Umgang mit der Traurigkeit lernte? Er wußte es nicht genau, jedenfalls fing er an seine Schmerzen oder Angst erst einmal einfach da sein zu lassen, so wie das Wetter, er wehrte sich nicht mehr so vehement gegen sie. Manchmal versuchte er auch bewusst seine Aufmerksamkeit auf völlig andere Dinge zu lenken, sehr oft half ihm das, und ohne es richtig zu bemerken, befand er sich in einem anderen, dem Leben wieder zugewandten Zustand.
Als es ihn, nach mehreren trüben Tagen, an denen er eingesackt war und nichts richtig gelang, heftiger erwischte, sah er Vivo am Fenster sitzen und hinaus schauen, in den nicht enden wollenden Regen. „Warum tust du das Vivo?“ „Es hilft mir, am Fenster zu stehen.“ „Es ist doch kein schöner Anblick.“ „Ich weiß nicht,“ sagte Vivo. „Aber es ist so, ich will sehen, wie es ist.“ Nach einer Weile fügte er hinzu: „Und es ist auch leichter, wenn es außen ist“. „Wie meinst du das?“ Vivo sah ihn an, „wenn es außen ist, kann ich es begreifen, die Wolken sind dick und schwer, der Regen fällt auf die Straße, die sieht nass und grau aus und ist voller Pfützen, die Blumen knicken ihre Blüten, die Zweige der Bäume hängen schwer, sogar die Ohren der Hunde hängen nass herab, und sie gucken traurig.“ Vivo sah ihn an. „Meinst du sie wissen, dass es vorüber geht, dass alles wieder hell wird und dass sie wieder bunte, offene Blüten haben werden? Für manche ist es sogar gut. Sie blühen danach um so schöner. Manches glänzt danach ganz sauber.“ Vivo seufzte. Er schaute auch hinaus. „Wenn es innen ist, dann weiß ich nicht, was es ist und woher es kommt und wann es geht, und ich kann mich nicht trösten, wie die Blumen und abtrocknen wie einen nassen Hund!“ Vivo hatte Falten auf der Stirn, „und wenn ich sag, die Sonne wird wieder scheinen, dann glaub ich`s mir manchmal nicht“, fügte er ärgerlich hinzu. Sie standen noch eine Weile am Fenster und sahen hinaus. Hier mit Vivo hatte das Wetter auf einmal etwas schönes für ihn.

Einmal, beide hatten einen wunderschönen Vormittag verbracht und nachmittags waren sie eingeladen auf einer Feier, inzwischen hatten sie viele Freunde gefunden, Vivo und er, sah er, wie Vivo ans Fenster ging und eine ständig wiederkehrende Melodie mit leisen Worten summte. Vivo sah sehr, sehr traurig aus. Er ging zu ihm. „Vivo, was ist? Warum bist du traurig?“ „Ich weiß nicht, lass mich hinausschauen und singen, das hilft, es muss jetzt weggehen, ich will nicht traurig auf’s Fest!“ „Weißt du was dich traurig gemacht hat?“ „Nein.“ „Weißt du, wann es anfing?“ „Ich weiß nicht. Es war da und es war gleich sehr doll.“ Ihm fiel ein, dass heute morgen, als sie den kleinen Weg über die Hügel zum kleinen Tierpark gegangen waren und die Abkürzung durch`s Gebüsch und Gestrüpp nahmen, sie in der Ferne einen Zug hatten hupen hören. Er hatte Vivo reflexartig an sich gedrückt, denn er war so froh gewesen, dass Vivo da war. „Vivo war es vielleicht dieses Gestrüpp, das dich gepiekst hat, oder diese seltsame Tute von dem Zug?“ „Ich weiß nicht,“ sagte Vivo. „Ich weiß nicht“, und er sah auf seine, etwas von den dornigen Bäumen zerkratzte Hand. „Vielleicht“, Vivo sah ihn an. Er trug ihn ins Bad und schmierte dick Salbe auf die Hand, dann trug er ihn wieder zum Fenster, öffnete es. Vivo hielt seine Hand hinaus in den Wind, damit die Salbe trocknete, auf einmal musste er lachen. „Fenster sind schön“, sagte Vivo, „man kann hindurch sehen, etwas hineinlassen und hinaus und man kann vorher schauen, wie es so aussieht da draußen, und was man hinein lassen will. Müssen wir nicht los?“ fragte Vivo und sprang von seinem Arm. Er schloss das Fenster. Vivo holte das Geschenk und warf ihm seine Jacke zu und sie verließen das Haus.
Als er selbst abends allein am Fenster stand und in die Nacht schaute, verstand er, alles hat seinen Grund, auch diese unerträgliche Schwermut. Oft wissen wir nicht woher sie kommt und warum sie da ist, aber sie hat ihren Grund. Von nun an fing er an mehr Verständnis für sich selbst zu haben, zu verstehen, dass er zu sich halten musste, ausnahmslos! Er begann die Ängste nicht nur zu akzeptieren, sondern zu akzeptieren, dass er sie manchmal hatte und er glaubte, dass er etwas aus ihnen machen könnte, was einen Sinn hat, für etwas gut ist, wenn er auch vielleicht noch nicht wußte wie. Und er wußte, dass sie einen Grund hätten, wenn er ihn auch nicht wüsste. Er lernte sich ernst zu nehmen und zu trösten. Von Vivo. Die Verstimmungen wurden seltener und wenn sie hartnäckig waren, ergriff er so zu sagen sich selbst und machte es so, wie er es bei Vivo gesehen hatte. Wenn die Fenstermethode nicht half, sagte Vivo zu Lolo seinem Herzensbär, „Komm Lolo, wir machen jetzt was“, dann fing er an etwas zu tun, zu kneten für Lolo, oder baute diesem einen Turm, oder ein Haus, meistens fand er das Ergebnis plötzlich so schön, dass er auf einmal wieder fröhlich durchs Zimmer hüpfte. Er guckte es sich ab und gewöhnte sich an gerade dann, wenn er dachte es ginge nichts mehr, ein gutes Essen zu kochen, einen Kuchen zu backen. Ja einmal nähte er aus alten Jeansresten eine kleine Hose für Lolo, worüber sich Vivo riesig freute und ihn überredete einen Ausflug mit Lolo in der neuen Hose zum Hafen zu machen. Vivo liebte es dort zu sitzen und Lolo alles zu erzählen, was er sah. Die Schiffe kommen und abfahren, die Container, die verladen wurden, die kleinen Polizeischiffe, die schaukelnden Bojen, den Wind, die Möwen, die die Schiffe begleiteten. „Lolo! Denk dir, sie fahren weit weg, es gibt soviel mehr als unser Zimmer, Lolo. Eines Tages Lolo bekommst du einen Koffer, dann reisen wir.“ Vivo sah ein Schiff am Horizont verschwinden, „dass es immer weitergeht, ist doch eigentlich seltsam?“ sagte er, „Ich kann das gar nicht denken. Es gibt kein Ende.“ Vivo dachte nach. „Nur zurück kommen können wir und dann ist trotzdem alles anders, weil wir weg waren.“ Vivo hatte Lolo fest im Arm und nahm die Hand, des Vaters und drückte sie. Er, ja, er ist nun Vivo`s Vater. Er drückte zurück, sie hielten sich ganz fest. Es ist schön zusammen zu gehen. Auf einmal war er sicher die Wand würde nie mehr stärker sein, als er und nie mehr auf jene Weise entstehen. Er würde sich nicht umdrehen, er würde nach vorne gehen, weitergehen, weiter, weiter,…

Sie gingen mit Lolo einen Kakao trinken. Als Vivo auf die Toilette ging, fragte der Wirt, der sich kurz zu ihnen gesetzt hatte, „habt ihr eigentlich gar keine Verwandte?“ „Nein,“ antwortete er mit einer ganz unemotionalen, wertfreien Stimme. „Auch sicher nicht einfach,“ sagte der Wirt, „aber man muss mit dem leben können, wie man’s getroffen hat. Ihr könnt das ja sehr gut.“ „Keine Verwandte!“ sagte die Frau des Wirtes, die auch gerade da zu gekommen war, „so was musst natürlich du fragen“, sie stupste ihren Mann an. „Natürlich haben sie welche! Uns nämlich.“ Sie holte einen selbstgemachten Saft, von dem sie wusste, dass Vivo ihn mochte, und als Vivo wieder da war, stießen sie alle an, und so war dieses Thema auch geklärt.

Eines Nachts erwachte er, ein Gedanke erschrak ihn: was sollte er Vivo sagen, wenn dieser nach seiner Mutter fragte? Was sollte er sagen? Sollte er das mit der Bahn erzählen?
Nein er konnte es nicht, es tat ihm zu weh allein daran zu denken. Nein, er konnte es nicht, auf keinen Fall, in naher Zukunft auf keinen Fall. Einem Kind, das,jetzt, erzählen, diese Einsamkeit, die darin lag, dieses so tiefe Verlassen werden… . Er weinte fast, als er daran dachte… . Nein, er würde ihm sagen, dass seine Mutter sehr krank war, zu krank zum Leben und das stimmte ja in gewisser Weise auch. Er wollte selbst, dass die Mutter Vivo geliebt hatte und er dachte, hätte sie doch auch, hätte sie sehen können.

Einmal hatten sie am Strand einen tote Möwe gefunden. Vivo hatte das sehr beeindruckt. Er war sehr still gewesen, hatte lange nachgedacht. Auf einmal hatte er gesagt: „Vielleicht ist sie nur weggegangen, wohin wir nicht sehen können…ich glaube sie ist weggegangen, wohin wir nicht sehen können.“ Dann sagte er: „Ich bleibe noch lange hier, mit Dir! Mit dir!!!“ und sah ihn an.

Als er in den Kindergarten kam, fragte er das erste Mal nach seiner Mutter. Er erzählte ihm sehr ängstlich, dass sie krank war. „Ist sie weggegangen?“ fragte Vivo, „Musste sie schon weggehen?“ „Ja“, antwortete er unendlich traurig.
Vivo ging zum Fenster. „Schade, dass sie schon weggegangen ist, dahin, wo wir sie nicht sehen…“, er sah lange aus dem Fenster. „Ich hätte so gerne etwas, das ich sehen kann von ihr.“
Ihm war bang, sehr bang, was sollte er tun? Sollte er die Mutter suchen, sollte er alles aufrollen, allem nachgehen?
Vivo spielte nachdenklich mit seinem Bären. „Es ist so schön hier, uns gefällt es hier, nicht wahr Lolo? Wenn du weggehen musst, dann machen wir ein Zeichen aus. Ich will, dass du mir dann winkst, mit irgendwas, was ich sehen kann.“ Er kramte in seiner Schatzkiste und holte ein paar kleine, bunte Federn heraus. Er band sie Lolo um den Bauch und sagte, „Wenn du weg musst, wirst du mir welche werfen, Er machte es Lolo voll Freude vor.
Das brachte ihn auf eine Idee. „Vivo hör mal, vielleicht hat es deiner Mutter keiner gesagt, oder sie hat keine Federn mit bekommen, vielleicht sollten wir einfach welche für sie werfen?“ Vivo staunte und dachte lange nach. Dabei sah er wie immer aus dem Fenster.
„Ja…!“, nach einer Weile fügte er hinzu: „aber es müssen besondere sein.“
Beide hielten von nun an immer Ausschau nach schönen Federn und immer am 24ten eines jeden Monats gingen sie von nun an ans Meer und warfen Federn in die Luft, sahen ihnen lange nach, wie sie auf den Wellen schaukelten, kleine leichte Schiffchen bis sie verschwanden. Vivo war sicher, dass sie seine Mutter erreichten.

Er entschied sich so mit Vivo zu leben, vielleicht war es nicht der richtige Weg, vielleicht könnte es alles anders gehen, aber es schien ihm, der für ihn gangbare Weg, und er war überzeugt, dass es auch für Vivo der richtige Weg war. Sonst musste das Leben, die Umstände, die Zeit anders entscheiden. Er trug die Verantwortung auch für diese Entscheidung, er wollte sie tragen und er würde dazu stehen. Warum sollte man nicht ohne Erklärung leben können? Einfach mit einem gewissen Mut zu sich selbst, Mut zum Ungewissen, und in gewisser Weise einfach in seine Hoffnung. Dieses Vertrauen, was es ja doch geschehen machte, das man aufs Neue erwachte, oder einschlief. Er drehte sich um und betrachtete den Kleinen und doch schon so großen Jungen, wie er dort in der Hängematte schlief. Ein Abenteuer, ein Mensch, voller Wunder, voller Ungewissheiten und mit aller Lebenskraft, so unendlich gefährdbar und stark in einem. Ein Abenteuer, was er begleiten durfte, und er traute es sich zu. Er traute sich; seinem Willen, und er wollte es auch mit aller Kraft. Er brauchte nicht mehr jemand, der ihn vor seiner Angst beschützte, der ihn verstand, ihm Recht gab oder Beweis. Er konnte für sich da sein und für Vivo.

Eines Tages, Vivo erwachte und stieg knöternd aus der Hängematte. „Hey Vivo, komm lass uns zum Strand gehen, es gibt schöne Wellen. Ich arbeite heute nicht mehr, komm! Auf!“ „Zum Strand? Juhu!“ Vivo flitzte schon um die Ecke.
Es war sehr windig. Vivo streckte seinen Arme in den Wind und freute sich, als er den Strand sah, wie er sich vor ihren Augen ausbreitete. Das Meer weit und blau, voll übermütiger Lebensfreude und Kraft, warf es seine Wellen dem Himmel entgegen, bäumte sich auf und es schien, als wären die weißen, fedrig aufspritzenden Schaumkronen, Mähnen wilder Pferde, die am Ufer entlang zögen. Der Himmel antwortete ihnen mit seinen ebenfalls weißen, wilden vom Wind federfaserig verzerrten Wolken. „Sieh doch mal!“, rief Vivo, „sie antwortet!“ Er blieb stehen und schaute über das Wasser zum Himmel. Wirklich die Wolken waren vom Wind so verweht , dass sie aussahen wie große, helle Federn. Vivo sprang in die kleinen Wellen und lachte. Er auch, er fühlte sich mitten im Leben, von Wind und Wasser und Bewegung. Er fürchtete sich nicht mehr wie früher, nicht mehr vor dem Zerbrechlichen, Empfindlichen. Er hatte das Zerbrechlichste, was es gab gesehen, damals in dem Kinderwagen, und es hatte es geschafft, was konnte ihm noch geschehen, es hatte es geschafft, ein Wunder, so wie alles, dachte er. Er sah um sich herum, die Bäume, die Straßen, die vielen Fenster, das Leben immer in Bewegung. Man kann es gar nicht verstehen oder begreifen, nur man selber ist mitten darin. Warum sollte es keinen Grund dafür geben oder warum sollte es einen, von irgendwem festgelegten Grund geben?
Das Zerbrechlichste, Empfindlichste und Wertvollste ist das Leben.

An einem Weihnachtsabend, viele Jahre später, sah man eine große Familie über eine Platz gehen. Die in warme Mäntel eingehüllten Frauen blieben unter dem hellerleuchteten Weihnachtsbaum plaudernd stehen. Ein kleiner Junge rief, „Bis gleich, Ma, ich gehe mit Pa und Opa auf die Brücke!“

Auf der alten weit geschwungenen Brücke sah man zwei Männer, einen älteren und einen jüngeren, wie sie mit einem kleinen Jungen dort standen. Sie ließen fröhlich lachend viele kleine, bunte Federn in den Fluss fallen. Weiße Schneeflocken mischten sich unter die bunten Federn, der Wind trieb sie hoch hinauf und sie tanzten zwischen den vielen Weihnachtslichtern.
In der Ferne fuhr ein Zug mitten am Heiligen Abend einer neuen Zukunft zu!